V Sv»-(-"v'-^v'- ^!355!L^rLÄL'ÄLÄL^ML-AL5ÄMrW!L^'W'LL'L ÄWLW!LL!LMW!VÄWWrWW!WrLLW!W / KA(öAWWWASAMKW'WW^ iÄv«-7Sv,>V'v' .as aus ihr geworden ist Eine Erzählung für junge Mädchen von Johanna 5pqri. Zugleich Fortsetzung der Erzählung: Was sokk denn aus ihr werden? Gotha. Friedrich Andreas Perthes. 1889 . ? 6 > ^ Ak« Aecht« »»rbcbalto,. öklll^ Inhalt. Leite Erstes Kapitel. 1 Zweites Kapitel.11 Drittes Kapitel. 22 viertes Kapitel.40 Fünftes Kapitel.55 Sechstes Kapitel. 71 Siebentes Kapitel.86 Achtes Kapitel.111 Neuntes Kapitel.139 Zehntes Kapitel.172 Elftes Kapitel.199 Zwölftes Kapitel.214 Lrües Kapitel. Bald waren es vier Jahre, seit im Felsenhaus an der sonnigen Halde bei Cavandone Frau Dorothea und ihre Tochter wieder eingezogen und kurz darauf die fröhlichsten Kinderstimmen und nie endender Gesang darin erklungen waren. Jetzt war es still um das Haus. Die warmen Strahlen der Märzsonne fielen auf die Terrasse, an der sich hoch hinauf die Weinreben rankten. Noch waren es junge, hellgrüne Blätter, die am Rebenholz in der Sonne glänzten und von Zeit zu Zeit leise erzitterten, denn vom Simplon her kam dann und wann ein frischer Windstoß und erinnerte daran, daß jene Höhen noch tief herunter ihren schimmernden Schnee trugen und warnend auf die früherschlossenen Blumenkelche schauten. Aber im geschützten Garten am Haus leuchteten die rötlichen Primeln und die goldenen Krokuskelche so vertrauensvoll zur Sonne auf, als wollten sie sagen: „Wir stehen unter gutem Schutz." 2 Oben auf der Terrasse stand Dort an einen Pfeiler gelehnt. Schon seit einer guten Weile hatte sie still sinnend auf die Blumen niedergeschaut, die ihre sonnigen Kelche wie fröhliche Kinderaugen zu ihr erhoben. Plötzlich wandte sie sich, lief weg und erschien unten im Garten wieder. Hier pflückte sie rasch weg, was duftete und glänzte, die schönsten Blumen von allen Stielen, bis die Beete halb entleert standen. Der Blumenstrauß, der in allen Farben schimmerte, war so groß geworden, daß ihre Hand ihn kaum festhalten konnte. In diesem Augenblick trat Giacomo in den Garten ein. „O Dori, alle die schönen ersten Blumen!" sagte er verwundert. „Warum schon? Wohin damit?" „Auf das kleine Grab", entgegnete Dori und pflückte noch die letzten rotvioletten Anemonen vom Busch. „Bring der Mutter ein paar davon, Frau Maurizius hat sie so gern!" sagte Giacomo, „und nimm die goldenen Krokusblümchen auf deine Stube, ich weiß, du siehst sie gern an." Dori schüttelte verneinend den Kopf. „Du willst nicht, Dori, nicht? Dir sind die Toten lieber als die Lebenden." Giacomo wurde ein wenig rot, als er diesen Borwurs 3 aussprach. Dort antwortete nicht, sie wollte an ihm vor- übereilen. Es entging Giacomo nicht, daß sie ihn nicht anblickte, er schaute sie um so näher an; sie hatte geweint. -„Dort, wer hat dir ein Leid ^angethan? Er soll es mit mir zu thun haben! Wer hat dich zum Weinen gebracht?" Dem Giacomo stiegen Zorn und Teilnahme dunkelrot in die Wangen, während er leidenschaftlich an Dort heran- redete. „Nein, nein, Giacomo, da ist niemand anzugreifen", wehrte Dori. „Wenn uns weggenommen wird, was wir lieb haben, so müssen wir es annehmen, aber es thut weh." Sie kehrte sich rasch um und ging den Weg hinan, der Kirche auf dem Hügel zu. Sie trat durch die kleine Pforte in den stillen Gottesacker ein und ging einem kleinen Grabe zu, das etwas seitwärts von den anderen Kindergrabstätten sein eigenes Plätzchen hatte. Eine junge Cypresse beschattete den kleinen Grabhügel; ein weißes Kreuzchen stand unter den grünen Zweigen. Dori steckte ihre leuchtenden Blumen vor das kleine Marmorkreuz in die Erde und blieb in Gedanken versunken davor stehen, bis sie vom Schlag der Glocken aufgeschreckt wurde, der vom Kirchturm erklang. Daß sie so lange dagestanden, hatte sie 4 nicht geglaubt; sie eilte heim. Die Mutter Dorothea saß an ihrem Platze auf der offenen Terrasse, denn noch stand die Sonne leuchtend über dem grünen Bergrücken drüben, und noch strömte das warme Licht über die sprossenden Ranken herein und zeichnete die Schatten der spielenden Blätter auf dem weißen Steinboden. „Komm, Dort, sieh, wie schön, das hast du schon als Kind so gern gesehen", rief Dorothea der Eintretenden entgegen. „Sieh die spielenden Blätter im Sonnenschein hier am Boden." Dort setzte sich zu der Mutter hin und schaute nach den leise wiegenden Schattenzweigen auf dem Stein. Sie sprach kein Wort. „Du bist so verändert, Dort", sagte die Mutter, indem sie ihre Arbeit in den Schoß legte und bekümmert auf ihre Tochter schaute. „Wie konnten sonst alle solche Dinge dein Herz erfreuen, die kleinste Blume und jeder Blick hier von der Terrasse auf deinen Rosengarten, auf den See, auf deine Berge drüben — hast du deine Heimat nicht mehr lieb, Dori?" — „Doch, Mutter, wie könnte ich die Liebe zur Heimat verlieren", entgegnete Dori, doch nicht mit der alten Lebhaftigkeit, die ihre Mutter ja so wohl an ihr kannte; 5 „aber du weißt ja, was mir das Herz so traurig macht, daß keine Freude mehr recht aufkommen kann. Ich bin um viele Jahre älter geworden im letzten Jahr, es kam so viel Trauriges zusammen." „Ja, ich finde auch, daß du plötzlich viel älter geworden bist, Dort, gerade diese Bemerkung hat mich so viel beschäftigt und bekümmert in der letzten Zeit", sagte Dorothea. „Ich hatte gehofft, wenn erst der Schmerz ein wenig vorüber sein würde, dann kehre deine alte Fröhlichkeit wieder zurück und mit neuen Kindern, die dir anvertraut würden, könnte dein Herz wieder neue Freuden erleben, und du könntest dadurch eher vergessen, was dich so geschmerzt hat!" „Nein, nein, keine neuen Kinder!" rief Dort leidenschaftlich aus. „Es war ja nicht ein Schmerz, der vorübergehen konnte, Mutter, Schmerzen, die nicht aufhören, sind es. Ich glaube ja, daß es sein muß, und daß ich ohne Schmerz und schwere Tage bald dahin käme, daß ich annähme, so müßte es sein und kaum mehr an mich herankommen lassen möchte, was mir nicht gefiele. Ich habe so vieles an mir kennen gelernt in der letzten Zeit, das ich vorher nicht gewußt habe. Unsere Tage sind so schön und in lauter Fröhlichkeit dahingegangen, daß ich das Gefühl hatte, es sei alles gut in mir und um mich und sollte 6 nun so bleiben. Aber von Vergessen sprich nur nicht. Mutter, ich will suchen, es anzunehmen, als etwas, das der liebe Gott nun einmal so geordnet hat und das sein mußte, aber vergessen kann ich nie, wie es damals war; es wird ja nun gleich ein Jahr, als Fräulein Smele erschien und Otto sich immer ängstlicher an mich schmiegte, und wie der Augenblick da war, da sie den Knaben von mir reißen wollte, und er mich mit seinen flehenden Augen anblickte und bat: ,Laß mich nicht von dir wegnehmen!' Und mit blutendem Herzen mußte ich ihn ja zum Fortgehen zwingen. O Dritter, das kann ich nie vergessen!" Dori legte den Kopf in ihre Hände und schluchzte. Auch Dorothea wurden die Augen naß. „Ja, es war hart, den Knaben so fortzwingen zu müssen", sagte sie. „Es war gut, daß der Vater ihn nicht abholte, das Widerstreben des Kindes hätte ihm sehr wehthun müssen." Dori hatte ihre Thränen weggewischt: „Nein, nein, wäre Doktor Strahl nur selbst erschienen", entgegnete sie lebhaft, „dann wäre es zu keinem solchen zerreißenden Abschied gekommen. Otto hat ja seinen Vater so lieb, mit ihm wäre er ohne solche bittere Thränen und Gewalt fortgebracht wordm; das hätte der Vater thun müssen!" 7 „Aber Fräulein Smele hat uns ja gesagt, seine Frau sei auf den Tod krank, sonst hätte Doktor Strahl den Knaben wohl selbst heimgeholt; weißt du denn das nicht mehr?" fragte Dorothea. Dori zuckte die Achseln. „So hätte er den Jungen noch uns überlassen müssen, bis er selbst ihn hätte heimholen können, so viel mußte ein solches Kind ihm wert sein", sagte sie aufgeregt. „Man muß aber dem Vater auch nicht unrecht thun", erwiderte Dorothea beschwichtigend, „er hatte ja den Jungen schon ein halbes Jahr über die zwei festgesetzten Jahre hinaus dagelassen, und schon im Frühjahr hätte er ja in seine Schule eintreten sollen. Doktor Strahl hat gewiß nach seinem besten Wissen und Gewissen gehandelt." „Und dann nachher, Mutter", begann Dori wieder, „weißt du noch, wie es war? Mit der tiefen Wunde im Herzen mußte ich zusehen, wie mein armer, kleiner Willi von Tag zu Tag abzehrte, bis sein Händchen, das mich nicht mehr losließ, kalt wurde, und ich es von meiner Hand ablösen mußte. O Mutter, keine neuen Kinder mehr, sie gehören mir ja nicht an, und ich kann keine mehr von mir wegreißen lassen!" Dorothea warf bekümmerte Blicke auf ihre Tochter, 8 die in leidenschaftlicher Erregung die letzten Worte gesprochen hatte und nun wieder den Kopf in ihre Hände gelegt, leise weinte. „Ich glaube, du warst noch zu jung, wie du die Kinder aufnahmst, du konntest noch nicht ertragen, was kommen mußte. Es wird besser werden, nun du reifer wirst. Glaub mir, Dori, du wirst doch noch wieder Freude haben, Kinder um dich zu sammeln", tröstete die Mutter; „du hast sie lieb, und ihnen ist wohl bei dir. Die Freude wird dir wiederkommen, und auf den Sommer für die Ferienzeit wirst du ja deinen Otto wieder hier haben, darum hat ja sein Vater selbst gebeten, denk an dieses frohe Wiedersehen!" Dori hob ihren Kopf auf: „Für einmal kann ich nur mit bitterer Angst an den Jungen denken", entgegnete sie. „Noch in jedem seiner Briefe hatte er von seinem beständigen Unwohlsein zu erzählen, und des Vaters Nachschrift in Ottos letztem Brief war das Beunruhigendste von allem: Er sieht für seinen Knaben mit Sehnsucht der Ferienzeit entgegen; der Zustand des Kindes scheint ihm ein Erbteil der so lange nervenleidenden Mutter zu sein, dem man alle Aufmerksamkeit zuzuwenden habe. Bei uns hatte Otto nichts Krankhaftes, Mutter, wie kann das nur sein?" 9 Dorothea schüttelte den Kopf. „Ich begreife auch nicht, wie daS ist, er sah ja aus wie ein frischer Apfel, bei uns. Der Junge bedürfte auch der Pflege einer Mutter. Aber ich komme noch einmal auf das eigene Haus zurück. Nicht wahr, Dori, um deiner eigenen Befriedigung willen thust du mir eines zulieb: Wenn wieder ein Kind bei dir angemeldet werden sollte, so nimmst du es an? Du kannst ohne eine bestimmte Beschäftigung nicht wieder fröhlich werden, ich kenne dich." „Ja, du hast recht, Mutter, so ist es", bestätigte Dori eifrig. „Ich muß eine Arbeit haben, an die ich alle meine Kräfte wenden kann, die inneren und die äußeren; denn mein Herz muß mitarbeiten, sonst mach' ich nichts Gutes. Ich habe schon etwas ausgesonnen, Mutter, da hilfst du gewiß auch gern mit. Unser Haus liegt sonnig und die Terrasse ist so herrlich luftig, und Platz ist ja so viel da: Wenn wir Kranke bei uns aufnehmen würden, Erholungsbedürftige, aber Erwachsene, die uns ja nicht so zu eigen werden, wie die Kinder. Solchen könnten wir wohlthun und sie mit Liebe Pflegen, das wird uns auch wohl machen." Dorothea sah ein wenig erschrocken aus; alles Neue -erschreckte sie zuerst. „Du hast wohl etwas Gutes im Sinn, Dori", sagte sie zaghaft, „aber wir wollen es doch 10 erst recht überlegen. Die Maja wird doch immer älter, sie würde auch mehr Arbeit bekommen, und Marietta ist noch gar zu jung, und alles kannst du doch nicht selbst thun. Wenn ich dir schon auch gern beistehen wollte, die Hauptsache läge doch auf dir." „Es hat ja keine Eile, Mutter", beruhigte Dort; „ich wollte dir nur erst einmal sagen, daß ich mir eine Arbeit ausgedacht habe, denn ohne solche kann ich nicht bleiben, und nach einiger Zeit wirst du selbst meinen Gedanken aufnehmen und zur Ausführung bringen und wirst die allergrößte Teilnahme dafür haben, ich kenne dich ganz gut, Mutter." Die Sonne war unterdessen hinter den grünen Bergen verschwunden. Dorothea war aufgestanden; es war die Zeit, da der Abendtisch gerüstet werden sollte. Er war freilich klein geworden, so klein, wie er vor Zeiten gewesen. Dorothea war ja wieder allein mit ihrem Kinde. Zweites Kapitel. Dort stand in das Lesen eines Briefes vertieft, als am andern Morgen ihre Mutter von einem Gang zur alten Maja hinüber heimkehrte. „Ich habe sie nicht mehr getroffen, ich muß sie noch einmal aufsuchen, sie war schon nach ihrem Äckerchen gegangen", berichtete Dorothea. „Nun wieder alles grünt darauf, nimmt sich die Alte vor Freude kaum mehr die Zeit zum Schlafen. Woher die Nachrichten, die du so verschlingst, Dort?" „Da lies selbst, Mutter", sagte Dori, als sie zu Ende gekommen war, den Brief Dorothea überreichend. Er war von Doktor Strahl. Er schrieb, fast dürfe er es nicht wagen, mit der Bitte, die ihm jetzt auf dem Herzen liege, an seine hilfreiche Freundin zu gelangen. Einem flehenden Kinde zuliebe thue er es dennoch, obschon er sich selbst sagen müsse, auch mit dem freundlichsten Willen möchte es der Pflegerin der kleinen Schutzbefohlenen unmöglich sein, seinen Wunsch zu erfüllen. Vergebens habe er gehofft, die schönen Frühlingstage würden seinem Otto die langersehnte Stärkung bringen; das Gegenteil sei eingetreten, der Junge werde täglich blasser und matter. Der Arzt hätte für ihn eine Versetzung ans Meer verordnet, erst die Luft, später wohl auch die Bäder zu genießen. Leider sei das Verhältnis des Jungen zu Fräulein Smele derart, daß von ihrem Wesen kein wohlthuender Einfluß auf ihn abzusehen wäre, sollte sie als Begleiterin eine längere Zeit allein mit ihm zuzubringen haben. Sein beständiges Flehen sei, der Vater möchte Tante Dort bitten, ihn zu begleiten. Der Arzt habe die Riviera zum Aufenthaltsort vorgeschlagen. Sollte Tante Dort es möglich machen können und für ihren kleinen Freund ein solches Opfer bringen wollen, so würde sie diesem schwere Heimwehtage in eine Zeit der Glückseligkeit verwandeln und seinem gebeugten Vater eine Last vom Herzen nehmen, die ihm von keinem anderen abgenommen werden könnte. Nochmals kam zum Schluß die Versicherung des Doktors, es sei ihm vollständig begreiflich, wenn seine Freundin das ungeheure Ansuchen zurückweisen müsse. Daß er es doch an sie stelle, würde auch sie verstehen, wenn sie die flehentlichen Bitten ihres Pflegekindes hören könnte. 13 „Was willst du thun, Dori?" fragte die Mutter, den Brief zusammenfaltend. „Wenn Otto krank ist und nach mir ruft, thu' ich doch nur eines, Mutter, ich gehe", entgegnete Dori rasch. „Ich bin ja frei, nur eines würde mich jetzt zurückhalten können, wenn du selbst krank wärest." „Das bin ich ja nicht, Dori, das nicht, aber diese fremde Gegend und alle die vielen Fremden, die da sind, das macht mir Angst", sagte Dorothea zaghaft; „ich weiß ja gar nicht, mit wem du zusammen leben wirst, so lange, gewiß monatelang." „Daran denk' ich nun gar nicht", gab Dori fröhlich zurück, „was sind mir die fremden Leute? Ich werde mit meinem Otto leben und nur für ihn; und nun soll Doktor Strahl gleich meine Antwort haben und fühlen, daß ich kein ungeheures Opfer bringe, sondern mich darüber freue, daß sein Otto nach mir begehrt." Dori ging, ihren Brief zu beantworten. Dorothea hatte während der folgenden Tage viel zu kümmern: Wie würde alles kommen? Wenn der Junge nun ernstlich krank werden sollte und Dori hätte ihn an dem fremden Orte allein zu pflegen? Sie würde es natürlich Tag und Nacht thun; wenn sie darüber selbst erkranken würde? Epyri, Was aus ihr gewordr» ist. 2 14 „Dann kommst du und pflegst uns beide, den Jungen und mich, dann sind wir wieder zusammen", entgegnete Dori heiter auf diese ausgesprochene Besorgnis. „Nein, lach' nicht, Dori", sagte die Mutter seufzend, „es ist mir, als habe unser schönes, stilles Leben ein Ende, so als kehre nach dem Wechsel, der nun eintritt, nie mehr das Alte wieder. Nach einer solchen Unterbrechung kommt das Vergangene nie mehr wieder so, wie es gewesen war. Ach Dori, was wird dann kommen?" „Aber Mutter, wir können doch jetzt gar nicht zweifeln, wie wir handeln sollen und darum auch ganz zuversichtlich bleiben", erwiderte Dori. „Wir haben diese Unterbrechung unseres gewohnten Lebens nicht herbeigeführt, und ist es denn nicht außer Frage, was ich thun soll, nun der Ruf um Hilfe an mich kommt in dem Augenblick, da mich keine Arbeit hier bindet, und ich mir eben ausgedacht hatte, wie ich meine Kräfte zu etwas Gutem verwenden könnte? Es ist ja gerade wie eine Antwort auf die Frage, die wir noch besprechen wollten, daß ich zum Krankendienst berufen werde. Das ist der Anfang und nachher setzen wir es zusammen fort, Mutter, und du wirst sehen, wer dabei die größte Befriedigung finden wird." Dorothea schwieg. Sie hatte selbst die Überzeugung, 15 dem ergangenen Rufe müsse Folge geleistet werden, und wenn zwischen den schweren Gedanken durch das Bild des geängstigten Vaters wieder vor ihren Augen aufstieg, dann drängte sie selbst die Tochter, dem bekümmerten Freunde bejahende Antwort zu schicken. Das that Dori, denn sie war fest überzeugt, daß es der Mutter keine Ruhe ließe, wenn auf ihre Bedenken hin die Sache abgelehnt würde. Eine Woche nachher kam ein Brief des jungen Otto so voller Dank und Jubel darüber, daß Tante Dori zu ihm kommen wollte und er wieder eine lange Zeit mit ihr zusammen sein würde, daß die Freude darüber auch die Bedenken der Dorothea verdrängte. Das Frohlocken des Jungen, den auch sie liebte wie ein eigenes Kind, übertönte alle Kümmernisse; Dorothea konnte nur noch an die erwartungsvolle Freude des anhänglichen Jungen denken und mußte sich mit ihm freuen. Der Brief, in dem Doktor Strahl denjenigen seines Sohnes eingeschlossen hatte, war voll des wärmsten Dankes an Dori und ihre Mutter für ihre Zusage einer Hilfe, die ihm nur durch sie werden konnte und die ihn von seiner schwersten Sorge befreite. Da er noch für längere Zeit durch Berufspflichten zuhause fest gebunden war, schrieb er weiter, könnte er seinen Jungen nicht begleiten, hoffte dann 2 * 16 aber, ihn besuchen oder heimholen zu können, wobei ihm dann die Freude zuteil werden würde, einmal wieder seine ehemalige Schülerin und Lehrerin zu treffen und ihr seinen Dank für alle die Wohlthaten, die sie schon auf sein Haupt gehäuft, noch mündlich ausdrücken zu können. Der Ort, den der Arzt zu dem Aufenthalt gewählt hatte, war Bor- dighera. Den Tag des Zusammentreffens daselbst möchten die Frauen selbst bestimmen, der Wunsch des Arztes lautete: je schneller, je besser. Von diesem war auch eine Villa zum Aufenthalt empfohlen, die nur für eine kleinere Zahl von Fremden eingerichtet und von einem mit Blumen reich geschmückten und von Lorbeer- und Magnolienbäumen beschatteten Garten umgeben war. „Da muß es schön sein! Wenn es dir nachher daheim gar nicht mehr gefiele, Dort?" sagte Dorothea, in der noch einmal ein Zagen aufgestiegen war. „O Mutter, was denkst du dir aus!" rief Dori mit Lachen, „da ist kein Grund zur Sorge. Von wo in der ganzen Welt sollte ich herkommen, daß es mir nicht daheim, in Cavandone, immer noch besser, am allerbesten gefallen würde! Wenn aber der Arzt so zur Reise drängt, so wird er wissen, warum, das ängstigt mich, Mutter, ich möchte sobald als möglich fort, wenn es dir recht ist, dieseWoche noch." Dorothea war damit einverstanden. Sie wünschte nur noch, daß Dori der alten Maja und ihren Enkeln selbst mitteile, was sie beschlossen hatte, denn dem Ausbruch der Wehklagen, der vorauszusehen war, wollte Dorothea lieber nicht beiwohnen. Dori meinte, so gefährlich würde die Sache wohl nicht werden, machte sich aber gleich auf, um drüben im kleinen Hause ihre Mitteilung zu machen. Das Häuschen stand offen, aber es regte sich nichts, weder in der kleinen Küche, noch drinnen in der Stube, es war niemand zuhause. Dori schaute sich in den kleinen Räumen um. „Da sieht es gut aus, ordentlich, wie's sein muß, Marietta hat etwas gelernt", sagte sie vergnügt bei sich. Wo sie die drei Bewohner des Häuschens zu suchen hatte, wußte Dori gleich. Giacomo war heute nicht auf der Arbeit in Pallanza, er hatte in ihrem Garten zu thun gehabt; jetzt mußte er mit der Großmutter im Äckerchen sein, es war ja die Zeit der Hauptarbeit dort. Sie ging den Berg hinab dem alten Turme zu. Der Abend lag licht auf den grünen Höhen drüben und schimmerte über den See. Im Äckerchen hinter dem Turm hackte die alte Maja so eifrig, als ob die Freude daran ihre Kräfte verjüngt hätte. Ein blühendes Mädchen mit lachenden Augen stand neben ihr, um mit zu hacken; aber die junge Marietta 18 mußte einmal nach dem lichten Abendhimmel hinüber und einmal auf die segelnden Schiffe niederschauen, das Hacken lag ihr nicht so ernstlich am Herzen wie der Großmutter. Giacomo schnitt an den jungen Rebenranken herum. Als Dort eintrat, wurde sie von Marietta, die sie zuerst erblickte, mit einem lauten Freudenruf, dann von Giacomo mit freudigem Lächeln und endlich von der Großmutter mit vielen herzlichen Worten begrüßt. Alle drei hatten ihre Werkzeuge niedergelegt und standen nun um Dori versammelt. Sie machte ihre Mitteilung und fügte bei, daß sie ja wohl für einige Zeit fortgehen könne, da sie ihre Mutter in dem guten Schutze von Maja und Giacomo wisse und Marietta ein verständiges und brauchbares Mädchen geworden sei, dem sie ihre Arbeit im Hause übertragen könne. Mariettas Gesicht leuchtete vor Freude über diese Aufgabe und über das Vertrauen, das Dori in sie setzte: „Ja, ich will gewiß alles so machen, wie du thust", versicherte sie, „daß du so lange fortbleiben kannst, als es dir nur gefällt". In Giacomos Augen war eine dunkle Wolke aufgestiegen: „Ich möchte wissen, wer's in Cavandone aushalten kann, wenn du fortgehst, Dori", sagte er, indem sich seine Stirne immer mehr zusammenzog. 19 „Jetzt kommt's, ich habe schon lang' gedacht, es komme, ja, jetzt kommt's", wiederholte die Großmutter in jammernden Tönen. „Was soll denn kommen, Maja", fragte Dori belustigt. „Ich gehe für einige Zeit fort, dann komme ich wieder heim, das ist alles, was kommt." „Ja, ja, du bist jung, Dori, und ich habe die Erfahrung. , Es kommt keiner wieder heim so wie er fortgegangen ist', heißt ein altes Sprichwort. Ich habe immer gedacht, es werde kommen, jetzt kommt's", jammerte die Alte noch einmal. „Ich weiß nicht, was du für Ahnungen hast, Maja, mich stecken sie nicht an", sagte Dori fröhlich; „versprecht mir nur, du und Giacomo, daß ihr recht zu meiner Mutter sehen wollt, bis ich wieder da bin, dann ist alles gut. Ihr sollt sehen, wie fröhlich ich wieder heimkehre! Und wenn erst unser Otto wieder frisch und gesund geworden ist und ich ihn mitbringen kann, wie ich es mir ausgedacht habe, dann feiern wir alle ein großes Freudenfest zusammen!" „Wenn du nur erst selbst schon wieder frisch und gesund daheim wärest, dann könnte man Feste feiern", sagte Giacomo grimmig, während Marietta umherhüpfte und in 20 die Hände klatschte, denn sie freute sich schon unbändig aus das Freudenfest und auf die Ankunft ihres kleinen Freundes. Die alte Mas« ließ sich's nicht nehmen, Dori zum Schiff nach Suna hinunterzubringen. Marietta wollte das Handgepäck tragen und Giacomo hatte den Koffer zu führen. So wanderte die kleine Gesellschaft in der ersten Frühe des lichten Frühlingstages den Berg hinab dem morgendlich flimmernden See zu. Vom Schiff aus, das jetzt Dori davontrug, schaute diese noch lange nach dem in der Morgensonne leuchtenden Ufer zurück, wo die guten, alten Freunde unbeweglich standen und mit flatternden Tüchern der Davonziehenden ihre Abschiedsgrüße nachwinkten. Zum erstenmal stieg in Dori jetzt ein leise zagendes Gefühl auf: Sollten die Worte der Mutter und die Ahnungen der alten Maja eine Wahrheit enthalten? Würde sie nicht mehr als dieselbe in das liebe Felsenhaus unter die alten, ihr so liebe Erinnerungen Manschenden Ka- stanienbäume, in das freundliche, gewohnte Leben zurückkehren? Sie schaute noch einmal nach der sonnigen Höhe von Cavandone hinauf. Dort schimmerte der alte Turm im Frühlicht; das junge Grün am Monteroffo erglühte eben in der Morgensonne, ein weißes Häuschen schaute wie 21 grüßend zwischen den Bäumen herunter, es war das Felsenhaus. Jetzt war die Heimat verschwunden. Dori schaute vorwärts. Vor ihren Augen stieg das Bild des geliebten Knaben auf, der nach ihr verlangte und das eines anderen kleinen Knaben, dem es ein Trost gewesen war, ihre Hand festzuhalten, bis die seinige erkaltet war. Könnte sie es sich je verzeihen, wenn Otto so nach ihr begehrt hätte und sie wäre fern geblieben? »Es ist das Rechte, was ich thue", sagte sie sich, „alles andere kann ich dem lieben Gott überlassen, ich thue, was nach seinem Willen ist". Eine freudige Zuversicht stieg in Doris Herzen auf und erfüllte es. Hatte sie den lieben Gott für sich, was hatte sie dann zu befürchten? Nur eine Frage erhob sich noch als Sorge in ihr: Wie würde sie den jungen Kranken finden, dem sie entgegenzog? Drittes Lapilel. In der Villa Palmyra grünten und blühten alle Büsche und Bäume. Duftende Blumen wiegten in allen Beeten ihre schimmernden Kelche im Frühlingshauch. Die Palmen inmitten des Gartens breiteten still schützend vor der lichten Sonne ihre dunkelgrünen Fächer über den jungen Rasen. Dori trat in den Garten ein. Sie war soeben in Bordighera angekommen und von einem Angestellten nach der Villa geführt worden. „Tante Dori! Tante Dori!" ertönte plötzlich eine Stimme von der Veranda her und im nächsten Augenblick stürzte Otto heran und warf sich so stürmisch auf Dori, daß ihr erstes Wonnegefühl war: Kraft hat er doch noch! „Bist du da, Tante Dori, bist du nun da?' wiederholte der Junge, sie umklammernd. „Mein Otto! Mein Junge!" rief Dori, ihn umfangend, aus. „Laß mich dich recht ansehen! Ja, ja, 23 du bist es ja! Maß bist du, mein Junge, so blaß — aber doch noch derselbe, mein eigener, alter, lieber Junge." „Du wirst Fräulein Maurizius noch umwerfen, Otto", sagte eine tadelnde Stimme, als dieser seine Arme noch einmal stürmisch um Dori schlug. Es war Fräulein Smele, die herzugetreten war. „Wir sind auch alte Bekannte, Fräulein", fuhr sie fort, Dori begrüßend. Diese löste sich nun aus Ottos Umarmung und reichte Fräulein Smele ihre Hand zum Gruße. Otto hielt die andere fest, er wich nicht von Doris Seite. Die drei gingen nun dem Hause zu. Fräulein Smele teilte Dori auf ihre Frage mit, sie sei schon seit vier Tagen mit Otto hier, nicht nach Abrede erst heute angekommen, um mit Fräulein Maurizius zu gleicher Zeit einzutreffen. Seit Doktor Strahl ihrer Ankunft sicher sein konnte, berichtete Fräulein Smele weiter, habe er sehr zur Reise gedrängt, da Otto mit jedem Tag blasser ausgesehen habe. Dieser aber hätte sich eingebildet, wenn er einmal da sei, so müßte Fräulein Maurizius auch gleich kommen, und hätte sich nun diese vier Tage lang so ungeduldig geberdet, daß schon die ganze Tischgesellschaft daraus gespannt sei, ob die mit 24 solcher Hartnäckigkeit täglich erwartete Tante heute ankommen werde oder nicht. „Warum aber ist Otto nur so blaß?" fragte Dori, „ersteht er aus einer Krankheit oder ist eine Krankheit zu befürchten? So habe ich ihn nie gesehen." „Nein, nein, nun bin ich schon gesund, seit du da bist, Tante Dori", versicherte Otto, „du wirst schon sehen, daß ich nun immer gesunder werde." Sie waren ins Haus eingetreten. Dori wurde nach ihrem Zimmer geführt; es lag neben Ottos Schlafstube und schaute auf den Garten hinaus. Dori sollte nun allein gelassen werden, daß sie sich nach der Reise erfrische und umziehe, um sich später zum gemeinsamen Abendessen wieder mit den beiden andern zusammenzufinden. „Komm aber bald herunter, Tante Dori, ich erwarte dich jede Minute", sagte Otto und wollte nicht gehen, bis er das Versprechen hatte, Dori würde nicht lange verweilen. Kaum war eine Viertelstunde verflossen, so klopfte es an ihrer Thür: „Ich bin's, Tante Dori", rief die bekannte Stimme von draußen, „Fräulein Smele ist schon zu Tische gegangen, ich will dich abholen, hast du die Tischglocke nicht gehört?" „Doch, doch, ich bin gleich bereit", entgegnete Dori, _ 25 die Thüre öffnend. Otto rannte herein, hing sich an Doris Arm und hielt ihn so fest, als hätte er zu befürchten, er könnte ihm wieder entschlüpfen. So stiegen sie zusammen zum Speisesaal hinab. Die Gesellschaft hatte sich schon zu Tische gesetzt, sie war nicht zahlreich. Eine auserlesene Gesellschaft mußte es sein, so fein und zierlich sahen die Damen aus in ihren Spitzentüchern. Auch Fräulein Smele hatte ein feines Tuch umgeworfen. Dori fühlte, daß sie sich recht einfach ausnehmen mußte in der eleganten Umgebung ; aber es kümmerte sie nicht. Ihren Otto am Arm trat sie an den Tisch heran. „Setz dich hier, Tante Dori, dann komme ich neben dich", sagte Otto, auf die freien Plätze neben Fräulein Smele weisend. „Willst du nicht den Platz in der Mitte nehmen, Otto, du hast wohl vorher hier gesessen?' meinte Dori. Aber Otto hatte sich schon gesetzt. Dori wollte keine weiteren Erörterungen hervorrufen, sie nahm den Platz an Fräulein Smeles Seite ein. Ein junger Herr, der Dori gegenübersaß, hatte schon lange mit lachenden Augen die Ankommenden beobachtet. „Mein junger Freund hat Besuch?" sagte er jetzt zu Otto gewandt. „Die langersehnte Tante ist wohl angekommen?" 26 „Ja, sie ist angekommen", erwiederte Otto, „und ich bin so froh, ganz furchtbar froh!" „Das kann ich sehen"; hier wurde der Herr von seiner Nachbarin zur rechten unterbrochen. Erst machte sie ihm unter der Stimme einige Bemerkungen, die untrüglich wie Tadel tönten; dann verwickelte sie ihn in ein längeres Gespräch, an dem auch seine Nachbarin zur linken teilnahm. Als die Tafel beendet war, schritten die beiden Damen sogleich aus dem Saal. Die eine hatte den Arm ihres Begleiters erfaßt, er mußte mit. Fräulein Smele machte Dori im Hinausgehen ein wenig mit den Gebräuchen des Hauses bekannt. Drüben war ein hübsch eingerichtetes Gesellschaftszimmer, wie sie der neu Angekommenen erklärte, wo am Abend öfters gute Musik gemacht wurde. An schönen Abenden hielt sich die Gesellschaft meistens noch eine Weile im Garten auf, da die Luft nun täglich milder und lieblicher wurde und die duftenden Blumen immer reichlicher aufblühten. Otto hatte sich nach Vorschrift des Arztes früh niederzulegen. „So wollen wir die kurze Zeit bis dahin noch im Garten zubringen, dann gehe ich mit Otto hinauf", sagte Dori. „Sie bleiben wohl gern noch ein wenig im Gesellschaftszimmer nachher, Fräulein Smele?" 27 .Dahin werden auch Sie gerne kommen", entgegnen diese, „und sollen es auch thun. Ist Otto erst in seinem Zimmer, so kommen Sie herunter, ich erwarte Sie/ „Bleibst du nicht noch ein wenig bei mir, Tante Dort, so wie du immer in Cavandone gethan hast?" fragte Otto mit bittendem Blick. „Du weißt wohl noch, wie viel ich dir am Abend immer noch zu sagen hatte. Dann setztest du dich an mein Bett und ich konnte dir alles mitteilen was in mir war, und manchmal hast du mir auch noch gesungen. O, das war so schön!" „Du bist nun wirklich kein kleines Bübchen mehr, das man in Schlaf singen müßte", sagte Fräulein Smele verweisend. „Ich will aber gern mit Otto hinaufgehen und nachher oben bleiben", sagte Dort. „Die Gesellschaft ist mir ja völlig unbekannt; ich bringe meine Abende lieber in meinem Zimmer zu, wenn Otto nebenan schläft. So höre ich auch gleich, wenn ihm etwas fehlen sollte." „Wie Sie wollen; wenn Sie wochenlang mit dem Jungen hier zu bleiben haben, so werden Sie wohl noch auf andere Gedanken kommen", bemerkte Fräulein Smele mit einem überlegenen Lächeln. „So kommen Sie, wir wollen Sie noch mit dem Garten bekannt machen, es ist Mondschein, wie ich glaube." So war es: die Gartenwege lagen hell im Mondlicht, auf allen waren wandernde Gestalten zu erblicken. Fräulein Smele hatte sich bald mit einer Dame der Gesellschaft in ein Gespräch vertieft; sie wanderten zusammen der Pal- mengruppe zu. „Wir wollen hinaufgehen, Tante Dori, da sind alle die Leute, wir können gar nicht sprechen zusammen. Oder wolltest du gern im Garten bleiben?" fragte Otto, der schon nach den ersten Schritten stehen geblieben war, Doris Arm immer festhaltend. „Mir ist es am liebsten, hinaufzugehen", entgegnete Dori, „auch glaube ich gar nicht, daß diese Abendluft für dich gut ist, und Fräulein Smele hat Gesellschaft gefunden. Komm, mein Junge!" Und wie in den vergangenen Tagen lief Dori, ihren Jungen an der Hand, den Korridor entlang und nach dem Zimmer hinauf. „Nun komm und erzähl mir vom Papa und den Brüdern, und was du treibst zuhause, und wie du krank geworden bist", sagte Dori, indem sie sich neben Otto auf das kleine Ecksofa fetzte. Er sah glückstrahlend aus. „Nun kommt alles wieder, wie es in Cavandone war!" 29 rief er jubelnd aus. „Nun kann ich dir wieder alles erzählen und du bist immer da, und zuletzt nimmst du mich noch mit dir heim nach Cavandone, dann seh' ich die Mutter wieder und die lustige Marietta, und die alte Maja, nicht wahr, du nimmst mich mit heim, Tante Dori, nicht wahr?" „Darüber müssen wir mit deinem Vater sprechen, das kann ich nicht so bestimmen", erwiderte sie; „mir könnte ja nichts lieber sein, als dich mit nachhause zu nehmen, aber deine Schule?" „O Tante Dori, nun hab ich's gewonnen!" schrie Otto vor Freuden laut auf. „Mein Papa hat gesagt: darüber muß man erst Tante Dori befragen, sie hat zu bestimmen, die Schule muß bis zum Herbst so wie so aufgegeben werden." „Hat er so gesagt? Das ist herrlich!" rief Dori in hoher Freude aus. „Nun gehen wir heim zusammen, sobald der Arzt die Erlaubnis dazu giebt, und unsere schönen Tage von Cavandone kommen alle zurück. Erzähl mir nun aber auch, wie du krank geworden bist." Aber Otto mußte erst seiner Freude in dem immer wiederkehrenden Ausruf: ^O, nun geht's nach Cavandone zurück! Nun geht's wieder heim, nach Cavandone!" Lust Epyri, Was au» ihr geworden ist. 3 30 machen. Endlich berichtete er: „Es hat eigentlich nie besonders angefangen, siehst du, Tante Dori, es ging so: wie ich mit Fräulein Smele zurückkam, da war der Papa ganz allein, die Bruder waren noch im Institut. Und der Papa war so still und schaute oft ganz lange nur so vor sich hin und sagte nichts, und hörte es nicht einmal, wenn ich etwas zu ihm sagte. Und in Cavandone warst du immer bei mir und ich konnte dir alles sagen, und dann waren wir wieder im Wald und sangen zusammen, und du warst immer da, am Abend und am Morgen und immer, o, das war so anders! Da mußte ich alle Augenblicke sagen: ,O Papa, laß mich nur wieder nach Cavandone zur Tante Dori zurückkehren, ich kann es nicht aushalten hier!* Dann ist er manchmal lange Zeit hin- nnd hergegangen im Zimmer und hat mich nur so traurig angeblickt und hat gesagt: , Ja, ich begreif' es wohl/ Und dann sagte er wieder: ,Es geht nicht, es kann nicht sein! Bitte mich nicht mehr darum!*" .Ach Otto, wie konntest du auch deinen armen Vater so quälen?" fiel Dori ein, „du wußtest ja doch, daß er noch kurz vorher den Schmerz erlitten hatte, deine Mutter zu verlieren. Hast du nie daran gedacht?" „Nein, von der Mutter hab' ich gar nichts mehr ge- 31 wußt", entgegnete Otto, „aber ich habe gewiß den Papa nicht gequält, und weil er so traurig wurde, daß ich wieder zu dir zurückwollte, habe ich gar nichts mehr davon gesagt. Aber ich habe immerfort daran gedacht, und am Abend, wenn es so still und traurig war, o, und der Abend so lang, lang, dann habe ich manchmal geweint, aber nur ganz leise, daß es der Papa nicht hören konnte. Und nachher im Bett habe ich noch lang' geweint, ich habe dann daran gedacht, daß ich ja nun gar nie mehr nach Cavan- done zurückkommen kann, wie zuerst, weil ich nun immer länger in die Schule gehen muß und nur kurze Ferien habe, und du könntest auch sterben zwischendurch und ich würde dich gar nicht mehr wiedersehen. Dann konnte ich nicht mehr einschlafen und essen mochte ich auch nicht mehr, und dann kam einmal der Arzt und untersuchte mich und sagte, ich sei krank. Sonst hat's gar nichts mit mir gegeben." Dori legte ihren Arm um Ottos Hals und zog ihn an sich: „Nun sind wir wieder zusammen, mein Junge", sagte sie, ihm das lockige Haar aus der Stirne streichelnd, „siehst du, mir ist die Trennung auch schwer geworden, aber nun haben wir eine schöne Zeit vor uns. Und daß dein Bater dich nachher bis zum Herbst bei mir lassen 3 * 32 will, ist so lieb von ihm. Denk, wie einsam er sich dann fühlen muß, ganz allein ohne seine Kinder!" „O nein, dann sind meine Bruder bei ihm und ich kann ganz gut ein wenig lang' fortbleiben, er merkt es dann nicht so gut. Die Bruder dürfen auch hierherkommen, uns zu besuchen, Papa hat es ihnen auf die Osterferien erlaubt. Es wundert sie ganz furchtbar, wie du aussiehst; ich habe so viel von Cavandone und von dir erzählt, daß sie dich eigentlich schon ganz gut kennen." Dort freute sich, seine Brüder nun auch kennen zu lernen und meinte, sie sollten ihn dann auch noch in Cavandone besuchen, damit sie sich sein Leben dort so recht vorstellen könnten. Nun waren Ottos Gedanken wieder in Cavandone, und die Aussicht, wieder dahin zu kommen, stieg Plötzlich wie ein Freudenfeuer in ihm aus, und mit funkelnden Augen begann er alle Stätten aufzuzählen, wo er gleich hinlaufen mußte, wenn er dort angekommen war: „zu den Rosen im Garten, nach der Terrasse, unter die Kastanienbäume, zur alten Maja, nach ihrem Äckerchen mit der lustigen Marietta." Nun fand es Dori an der Zeit, daß Otto zur Ruhe komme. Er sollte sich in sein Zimmer zurückziehen, nachher würde sie noch hinüberkommen und sich einen Augen- blick zu ihm fetzen, wie er es in Cavandone gewohnt war. Ohne Widerrede verabschiedete sich Otto für den Augenblick und ging nach seinem Zimmer. Bald nachher saß Dort an seinem Bett, und um ihn nicht mehr zu neuen Plänen anzuregen, brachte sie ihm nur noch das beruhigende Bild vor Augen, wie Giacomo nun wieder täglich im Garten stehe und seine Rosen schneide und dazu leise seine Lieder singe, die immer ein wenig traurig klingen, wenn sie noch so lustige Worte haben. Als Dori aufstand, zog Otto sie noch einmal auf sich herab und schlang seine Arme um ihren Hals: „O, Tante Dori, versprich mir nur, daß du morgen und alle Tage, wenn ich erwache, wieder da bist", bat er. „Gewiß, für lange Zeit", versprach Dori, „aber sag mir nun noch, mein Junge, betest du auch jeden Abend recht von Herzen, bevor du einschläfst, so wie du in Cavandone thatest?" „O, das habe ich nun schon lange, lange nicht mehr gethan, Tante Dori", bekannte Otto. „Aber in Cavandone war auch alles so anders. Dort sah ich gleich von meinem Bett aus in den Himmel hinein und zu den hell funkelnden Sternen auf, da war es, als wäre der liebe Gott ganz nah. Und dann bist du an mein Bett gekommen 34 und hast mit mir gebetet, und daheim kommt niemand an mein Bett, und vom Himmel und den Sternen seh' ich gar nichts, nur rote Vorhänge sehe ich um und um. Da ist es, als ob der liebe Gott viel, viel weiter weg wäre und einen nicht so gut hören könnte." „Aber Otto, du weißt ja recht wohl, daß der liebe Gott uns überall gleich nahe ist und uns hört, wo wir zu ihm rufen. Siehst du, so geht's, wenn wir nicht mehr beten und nicht mehr mit dem lieben Gott zusammenhangen, dann kommen wir um alle Freudigkeit, weil uns dann die feste Zuversicht im Herzen erlischt, daß ein lieber Vater im Himmel uns an seiner Hand hält, der uns nichts Böses geschehen läßt, und dem wir all' unser Leid klagen dürfen. Darum bist du so traurig und krank geworden, weil du niemandem dein Leid klagen konntest und dir keine Hoffnung mehr ins Herz kam, daß es wieder von dir genommen werden würde." „O, ich habe lange gebetet, Tante Dori, gewiß viele, viele Wochen lang, jeden Abend", versicherte Otto, „immerfort habe ich gebetet, der liebe Gott soll mich wieder zu dir zurück nach Cavandone führen, aber da geschah gar nichts, wenn ich es schon fast nicht mehr aushalten konnte. Und dann war es immer mehr so, als sei der liebe Gott 35 weit weg und höre mich nicht, und dann vergaß ich das Beten ganz." „So mußt du nie wieder thun", sagte Dori, „du hast dich selbst um den größten Trost gebracht, der uns ins Herz kommt, wenn wir alles, was uns schmerzt und beunruhigt, dem lieben Gott sagen und ihn bitten dürfen, daß er uns helfe. Er kann es und er will es, aber er thut es, wenn die rechte Zeit für uns da ist, die er wohl kennt. Siehst du, welchen Trost jdu gefunden hättest, da du nicht mehr zu deinem Vater von deinem Verlangen reden durftest, weil er so traurig darüber wurde, es nicht stillen zu können; wenn du nun deinem Vater im Himmel alles anvertraut und ihn gebeten hättest, dir beizustehen, daß du dich nicht so allein fühlen müßtest, da es doch nun einmal sein mußte, daß wir getrennt wurden, denn bei mir konntest du nicht länger bleiben, das erkennst du wohl. Du siehst ja, was deine Brüder alles lernen, du wolltest doch selbst nicht so zurückbleiben, wie es gekommen wäre, hätte dein Vater dich nicht Heimberufen." ,Ja, gewiß, aber ich bin doch ganz furchtbar froh, daß ich wieder bei dir bin, Tante Dori, und daß ich nachher noch mit dir kommen und bei dir bleiben darf, das ist herrlich! Ich will auch dem lieben Gott recht danken, daß M _ 36 er mir dieses Glück schickt, und will gewiß daran denken, was du mir gesagt hast. O, daß du wieder da bist, wenn ich morgen erwache!" Hier wurde Otto unterbrochen durch den eiligen Eintritt von Fräulein Smele. „Ich habe Sie im ganzen Garten herum gesucht, die Gesellschaft hat auch nach Ihnen gefragt", sagte die Eingetretene erregt. „Wo sind Sie denn nur nach Tisch gleich hingekommen? Ich habe Sie gar nicht mehr erblickt." „Von der Gesellschaft kenne ich niemand, auch fand ich die Abendluft nicht eben zuträglich für Otto", erwiderte Dori gelassen. „So bin ich mit ihm hier heraufgekommen, es wird ja nun auch die rechte Zeit zum Schlafen für ihn gekommen sein." .Gewiß, es ist gerade die gewohnte Zeit', bestätigte Fräulein Smele; „mich nimmt nur wunder, daß Otto Sie aufmerksam gemacht hat darauf, er ist sonst eher widerspenstig, wenn ich an die Zeit erinnere. Aber das werden Sie sich nicht etwa einfallen lassen, Fräulein Mau- rizius, daß Sie einem Jungen, der sein zehntes Jahr zurückgelegt hat, Gesellschaft leisten wollen, bis er einschlafen will. Das fehlte gerade noch in unserem Haus, wo jetzt ohnehin jeden Tag ein paar neue Ansprüche auftauchen, seit die Jungen alle daheim sind!" „Es ist der erste Abend unseres Zusammenseins seit der Trennung, die uns beiden wehe that, wir hatten uns allerlei mitzuteilen; auch hatte ich eben jetzt nichts Besseres zu thun", sagte Dori bestimmt. „Sollten Sie etwas von mir wünschen, so bin ich nun bereit." .Nicht für mich, für Sie, damit Sie mit der Gesellschaft etwas bekannt würden, wünschte ich, Sie zu finden", erwiderte Fräulein Smele mit Nachdruck. „Es wird Musik gemacht im Saal; ich kam Sie herunterzuholen, da ich annehmen mußte, Sie wissen nichts davon." .Allerdings nicht, aber ich danke Ihnen, Fräulein Smele, ich ziehe vor, in meinem Zimmer zu bleiben", sagte Dori. „O, juchhei! Tante Dori geht nicht weg und ich muß nicht so lang' allein sein", rief Otto und legte sich beruhigt auf sein Kissen. Fräulein Smele zuckte die Achseln: „Thun Sie, was Sie für gut finden. Stille sein wäre dem Jungen besser als Unterhaltung", damit verließ sie das Zimmer. Dori nahm nun für heute Abschied von Otto und ging nach ihrer Stube hinüber. 38 „Lässest du die Thür offen, Tante Dori, daß ich immer sehen kann, daß du da bist?" fragte Otto noch. „Wenn du schlafen und gar nicht mehr mit mir sprechen willst, dann will ich die Thür ganz offen lassen", entgegnen Dori. „Schlafen kann ich nun noch lang', laug' nicht, schon seit vielen, vielen Wochen ist es so, und wenn ich dann so lang' liegen mußte ohne Schlaf und es so schrecklich dunkel war ringsum, dann bin ich oft in meinem Bett aufgesessen und habe furchtbar geweint, und habe immer gedacht, wenn du nur da wärest, du würdest mich nicht so allein lassen — o, es war so schrecklich!' „Jetzt bleib' ich bei dir, mein Junge, dann schläfst du Wohl bald ganz ruhig ein", sagte Dori beruhigend. Aber es war, wie Otto gesagt hatte, eine Stunde verging und wieder eine und noch eine. Otto verhielt sich ganz still, nur von Zeit zu Zeit ertönte leise die Frage: „Bist du noch da, Tante Dori?" „Gewiß, ich gehe nicht weg", war jedesmal die Antwort. Endlich verstummte die Frage. Dori ergriff ihre Lampe und trat leise in Ottos Zimmer und an sein Bett. Die dunkeln Locken lagen wie damals, wenn sie in Cavan- done an sein Lager trat, um seine weiße Stirne, aber das 39 runde, blühende Gesichtchen von damals war schmal und blaß geworden. „O mein Junge, daß ich dich wieder frisch und blühend sehen und dich so deinem Bater zuführen könnte! Wie wird er sich um dich ängstigen!" sagte Dori für sich, und mit gefalteten Händen blieb sie noch eine gute Weile am Lager des schlafenden Knaben stehen, auf dessen Gesicht jetzt ein Lächeln spielte, das von einem wonnigen Traum erzählte. viertks Kapitel. Am andern Tage saßen Fräulein Smele, Dori und Otto allein am Frühstückstisch. Zu dieser Zeit fand die Gesellschaft sich nicht zusammen; jeder nahm sein erstes Frühstück ein, wann es ihm paßte. „Otto, nun sollst du deinen Morgenspaziergang machen und zwar allein", sagte Fräulein Smele, als man sich vom Tisch erhob. „Ich habe mit Fräulein Maurizius noch allerlei zu besprechen und morgen muß ich reisen, ich kann das Haus nicht länger allein lassen." „Ja, recht von Herzen gern und mit Freuden", rief Otto so bereitwillig aus, daß Fräulein Smele ihn mit Erstaunen anblickte. „Ich will auch so lange fortbleiben, daß Sie hintereinander ganz fertig sprechen können, denn morgen müssen Sie wirklich reisen, Papa kann nicht so lang' allein bleiben mit den Brüdern", setzte Otto mit großer Lebhaftigkeit hinzu. 41 „Seit Monaten hast du nicht so lebhaft gesprochen, Otto, auch daß du plötzlich so willfährig zum Spazier- gang bist, ist mir wirklich überraschend", sagte Fräulein Smele, immer noch völlig verwundert. „Sie sollten ihn nur gesehen haben, wie er bis jetzt immer herum- schlich, oder in einer Ecke fest saß und sagte: ,ich mag nicht, ich bin müde<, wenn er hinaus sollte. Du hast auch wahrhaftig schon einen viel frischeren Ausdruck in den Augen!" fuhr sie zu Otto gewandt fort. „Wie wunderbar schnell doch eine solche Luftveränderung wirken kann, wenn man das Rechte trifft! Das wird der Arzt gerne hören und wie wird der Papa sich der Nachricht freuen!" „Ja, dem Papa sagen Sie nur, daß ich schon gesund geworden bin und nur eine Nachkur in Cavandone noch nötig habe. Nun müssen Sie sprechen zusammen, damit Sie fertig werden", damit rannte Otto aus dem Zimmer. Fräulein Smele schüttelte den Kopf. „Sie glauben nicht, wie der Junge sich verändert hat Fräulein Maurizius, und in so kurzer Zeit! Hätte ich es nicht unter meinen Augen vor sich gehen sehen, ich könnte es selbst nicht glauben. Wenn ich das seinem Vater erzähle, wie wird es ihn aufrichten! Er war wie gebrochen, seit der Arzt seinen letzten Ausspruch that, der dann die 42 Versetzung hierher bewirkte. Bis dahin wollte der Vater von keiner Entfernung des Jungen mehr hören, er meinte, es sei schon jetzt vieles für seinen Unterricht vernachlässigt und verspätet worden." „Was war dieser letzte Ausspruch des Arztes?" fragte Dori erschrocken. „Kommen Sie mit mir auf meine Stube, hier können wir nicht eingehend sprechen", Fräulein Smele schritt voran, bot in ihrem Zimmer Dori einen Sessel an und setzte sich auf das kleine Sofa vor sie hin. „Es war sonderbar mit Ottos Zustand", fuhr Fräulein Smele hier fort: „es war keine bestimmte Krankheit, die ihn ergriffen hatte, es war wie ein Aufhören aller Lebensthätigkeit. Am Tage saß der Junge müde und matt und wie von Melancholie befallen in den Ecken herum und in der Nacht hörte man ihn oft laut schluchzen und weinen, und kamen wir herzu- gelaufen, so fanden wir ihn schlafend. Stöhnen konnte er, als hätte er den größten Jammer im Herzen, es war alles im Schlaf. Arzeneien halfen nichts, gute Speisen, die doch den Kindern sonst Vergnügen machen, berührte er kaum. Endlich erklärte der Arzt, der Junge müßte sofort von allem Lernen und aller gewohnten Umgebung weg, in die stärkende Meerluft gebracht werden und zwar für eine längere Zeit. Der Junge sei in einem ungewöhnlichen Grade nervös, die Anlagen seiner Mutter müssen in einer Weise auf ihn übergegangen sein, die zu großen Befürchtungen Anlaß gebe. Ein schrecklicheres Wort konnte dem armen Vater nicht ausgesprochen werden. Sie haben ihm eine wirklich verdankenswerte Erleichterung verschafft, daß Sie die Pflege des Knaben übernehmen wollten, der Vater ist ja gebunden durch seinen Beruf und ich konnte das Haus für so lange nicht verlassen. Es ist ja zwar keine Krankenpflege, die Sie zu übernehmen haben, und da diese Meerluft in den ersten Tagen ihre Wirkung zeigt, ist ja fest zu hoffen, daß Ihnen auch keine solche Pflege bevorsteht." „Für mich würde ich sie nicht fürchten, Fräulein Smele", entgegnete Dort, „für Otto und für seinen Vater hoffe ich, der liebe Gott lasse nichts Schlimmeres kommen. Wie war es denn mit der kranken Dame, kam sie vor ihrem Ende noch nachhause?" „O, bewahre, das wäre völlig unmöglich gewesen. Was der arme Mann in dieser Zeit gelitten hat! Er besuchte die Frau öfters, denn der Arzt hatte ihn davon in Kenntnis gesetzt, daß ihre Kräfte abnehmen. Aber seine Besuche erhöhten ihre Aufregungen. Sie hatte die Idee, er hole sie zu großen Gesellschaften ab, wollte sich durchaus in Toilette 44 begeben und ihn begleiten. Das war ja überhaupt der Grund der Überreizung ihrer Nerven, daß sie sich dem Gesellschaftsleben zu sehr geopfert hatte, sie sollte ja überall dabei sein, wie war sie gefeiert! Oft mußte sie denselben Tag zwei Gesellschaften beiwohnen, erst einer früheren, dann einer ganz späten. Wie sollte sie dann noch recht zur Ruhe kommen! Die Ruhelosigkeit war zur Krankheit geworden. Fort und Fort soll sie hin- und hergelaufen sein und befohlen haben, man soll ihr die Festkleider bringen, der Wagen stehe schon vor der Thür, sie hätte zu eilen. So ging es, bis die Kräfte aufgezehrt waren. Doktor Strahl hat dann im letzten Spätherbst seine Söhne heimkehren lassen, es war ihm zu einsam im Hans, er war sehr angegriffen von den Erfahrungen der letzten Jahre, auch meinte er, es möchte für Otto gut sein, wenn er nicht so allein wäre. Aber was ist es nun? Ich kann Ihnen sagen, Fräulein Maurizius, eine leichte Aufgabe ist es nicht, diesem Hause vorzustehen, nun drei Jungen da sind, jeder mit seinen eigenen Bedürfnissen und Ansprüchen, mit vielen nötigen und tausend unnötigen Anliegen. Der erste überlebendig wie ein Kreisel, der einem den Kopf verwirrt, der zweite verschlossen wie eine Schatulle, sodaß man alles aus ihm herauswürgen muß, was man ja doch wissen soll, und der 45 dritte so nervös angegriffen, daß man kaum weiß, wie er behandelt werden soll, daß nicht ein Unheil losbricht. Und dazu der Herr des Hauses — nein, das muß ich sagen, er erschwert das Leben im Hause niemandem, aber es ist lähmend, ihn immer so schweigsam und nachdenklich zu sehen und zu wissen, daß er all' das Schwere, das er erlebt, allein bei sich tragen muß; denn die Knaben sind noch zu jung, um ihn zu verstehen, auch wissen sie ja viel zu wenig von allem, das der Vater durchgemacht hat: ihre Mutter haben sie eigentlich kaum gekannt." Dori wünschte, Fräulein Smele möchte ihr die Vorschriften des Arztes nun mitteilen und was in der Behandlung des Knaben besonders sollte beobachtet werden. Fräulein Smele ging nun zu diesen Mitteilungen über. Sie waren nicht lang, der Vorschriften waren wenige, die Behandlung des Jungen sollte man nur Fräulein Mauri- zius überlassen, hatte Doktor Strahl angeordnet, sie kenne den Jungen und wüßte am besten, was ihm gut sei, war seine Meinung. „Wenn dem wirklich so ist, so werden Sie auch wissen, welche Aufgabe Ihrer wartet", schloß Fräulein Smele ihre Besprechung. „Davor fürchte ich mich nicht", sagte Dori. Jetzt klopfte es an die Thür, Otto steckte den Kopf herein r Epyri, Was aus ihr geworden ist. 4 46 „Ist fertig gesprochen oder soll ich noch einmal gehn?" fragte er. Das Sprechen war wirklich zu Ende. Fräulein Smele schickte sich zum Packen ihrer Sachen an, Dort ging mit Otto hinaus. „Bist du müde, Otto", fragte sie. .Nein, gar kein bißchen", erwiderte er fröhlich. „Dann machen wir noch einen Gang zusammen, komm, es muß ja herrlich sein, hier herum. Weißt du den Weg zu einem schönen Aussichtspunkt?" „Nein, Fräulein Smele sagte, am besten sei es, wir wandern immer hier in dem großen Garten herum, wenn man müde sei, könne man da und dort auf eine Bank sitzen und ausruhen und überall sei man von Blumenduft umgeben. Aber siehst du, Tante Dori, es war zum Umkommen langweilig; eben jetzt bin ich fünfzig Mal um den ganzen Garten herumgegangen; ich habe die Gänge gezählt, damit es weniger langweilig sei." „Komm, nun ziehen wir hinaus auf eine Entdeckungsreise", sagte Dori. Otto hing sich fest an ihren Arm. Sie durchschritten den Garten und traten auf den Weg hinaus. Er führte zur rechten der langen Reihe der Häuser entlang der Hauptstraße zu, zur linken stieg er zur Höhe 47 hinan, auf der das alte Städtchen eben im hellen Sonnenschein erglänzte. Dori wandte sich dieser Richtung zu. Schon blühten die Rosen in den sonnigen Gärten am Wege. Die stillen, grauen Olivenbäume standen in dichten Gruppen, da und dort hob eine schlanke Palme ihre ausgebreiteten Zweige zum dunkelblauen Himmel empor. Dori schaute mit Entzücken nach allen Seiten. „O, wie herrlich, wie wundervoll ist es hier!" rief sie aus, „du siehst es doch, Otto? Freust du dich auch recht, daß du hier bleiben darfst? Es ist ja entzückend!" „Ja, jetzt seh' ich, daß es schön ist und ich freue mich auch, hier zu sein", erwiderte Otto. „Aber siehst du, Tante Dori, wenn man inwendig nicht fröhlich sein kann, so nützt es nichts, wenn es noch so schön ist draußen, man sieht es nicht." Es that Dori weh, diese Worte zu hören. „Hat der Junge das schon kennen gelernt!" mußte sie bei sich sagen. Aber eben jetzt schaute Otto mit so fröhlichen Blicken um sich, daß auch sie von Herzen fröhlich mit ihm sein konnte. „Nun wollen wir nur noch daran denken, welch' herrliche Tage vor uns liegen", sagte sie, „und dem lieben Gott danken, daß er es so schön für uns geordnet hat und wir uns nun so zusammen freuen dürfen." Sie hatten 4 * 48 nun den Höhepunkt erreicht, wo die steilen, gepflasterten Gassen zur linken nach dem Städtchen hinaufstiegen, vor ihnen lag, wie eine Burg mit breiter Zinne, ein freistehender, ausgedehnter Felsen, der zum Hinaufsteigen lockte; Droben mußte der Blick nach allen Seiten ungehindert frei sein. Sie stiegen hinauf: Dort that einen lauten Freuden- ruf; da lag zu ihren Füßen und weit, weithin in unendliche Fernen verschwimmend das grünleuchtende Meer. Nur gegen Westen umsäumte ein Höhenzug, wie von Duft gewoben, die schimmernde Flut. „O, welche Herrlichkeit!" rief Dori aus. „Komm, Otto, hier wollen wir uns niederlassen, gleich mitten auf den Felsen setzen wir uns hin. Aber die Schirme müssen wir ausbreiten, die Sonne brennt gewaltig auf den Stein." „Dort wär's kühler", sagte Otto, der schon ringsum gespäht und etwas entdeckt hatte, das ihn besonders lockte. „Sieh, Tante Dori, dort unten, bei der alten Kapelle." Am Fuße des Felsens, unweit der Straße, die dort dem Meer entlang führte, stand nahe am Wasser eine alte, einsame Kapelle. Einzelne hohe Felsstücke ragten dicht daneben aus dem Wasser empor. Die heranrollenden Wogen brachen sich an dem Gestein und spritzten in hohen Wasserstrahlen empor, die Felsen mit dem Strudel übergießend. 49 „Ja, ja, komm, dahin gehen wir", stimmte Dori bei, die es gleich mächtig zu der meerumrauschten Kapelle hinab- zog. Sie kletterten über die glatten Felsen hinunter. Als sie die Straße überschreiten wollten, kam eben ein Wagen gefahren, sie blieben einen Augenblick am Wege stehen. Der Herr, der auf der Rückseite des Wagens saß, schwang seinen Hut und grüßte mehrmals, wie ein alter Bekannter. „Ich glaube, es war der Herr mit den Damen, die uns gegenüber Mische sitzen", sagte Dori, als der Wagen verschwunden war. „Weißt du, wer die Leute sind? Siesehen sehr elegant aus." „Ich weiß nicht, aber der Herr hat gleich mit mir zu sprechen angefangen am Tisch", erwiderte Otto, „und da ich es fast nicht aushalten konnte, bis du kamst, habe ich bei jeder Mahlzeit zu Fräulein Smele gesagt: , Morgen ist vielleicht Tante Dori da und sitzt neben mir/ Da hat der Herr auch angefangen und jedes Mal, wenn er sich hinsetzte, sagte er: .Morgen, hoffe ich, ist nun doch endlich Tante Dori da und sitzt mit uns Mische/ und dann mußten wir beide lachen." Die Erscheinung des Wagens, der die Gäste offenbar von einer Spazierfahrt zurückbrachte, erinnerte Dori daran, daß sie auch wieder an die Rückkehr denken mußte. Die 50 wunderbare Schönheit, die ihr auf jedem Schritte entgegen- leuchtete, hatte sie die Zeit völlig vergessen lassen. Sie schaute auf ihre Uhr. „Wir müssen gleich zurückkehren, Otto", sagte sie eilig, „und hier, den geraden Weg der Straße entlang, es wird der kürzeste sein." Otto schaute ein wenig zögernd nach den Felsblöcken hinüber, um welche die Wogen brandeten, den schneeweißen Gischt emporspritzten und über die Steine rollten, immer wieder, immer neu. „Ja, ich wollte wohl auch noch gerne bleiben und zuschauen", sagte Dori wieder, „aber es ist Zeit, komm! Wir können ja jeden Morgen dahin zurückkehren, das ist Wohl ein schöneres Ziel als fünfzig Mal um den Garten zu Pilgern, nicht?" „Und noch allein!" rief Otto heranrennend und sich wieder so fest an Doris Arm anklammernd, als wollte er zeigen, daß er den nicht mehr loszulassen gedenke. Nun ging es rasch zur Villa Palmhra zurück. Die Herrschaften im Wagen mußten irgendwo angehalten oder einen weiten Umweg gemacht haben; eben fuhren sie der Villa zu, als Dori und Otto den Garten betraten. Fast in demselben Augenblick kamen sie alle, Fahrende und Fußgänger bei der offenen Halle an. Der Herr sprang I 51 vom Wagen herunter und begrüßte die Eintretenden. „Sie haben einen langen Spaziergang unternommen — aber mein junger Freund", unterbrach er sich selbst, „willst du mich der Dame vorstellen?" „Ja, das will ich wohl", sagte Otto, „aber ich weiß nicht, wie Sie heißen." „Ach, das ist ja richtig, wir haben eine namenlose Freundschaft errichtet", sagte lachend der Herr, der sich nun nochmals vor Dori verbeugte: „Mein Name ist Maurizius, mein Fräulein, darf ich um den Ihren bitten?" „Mein Name ist ebenfalls Maurizius", sagte Dorr lachend. „Ist es die Möglichkeit!" rief der Herr überrascht aus. „Man sagt mir, Sie seien aus diesem Lande gebürtig, ich komme vom hohen Norden herunter, und nun will das Schicksal, daß wir denselben Namen tragen. Sollte das nicht ein Wink sein, daß wir hier im fremden Lande eine zusammengehörende Gesellschaft bilden sollen?" Die Damen hatten nun auch den Wagen verlassen und traten heran. „Meine Schwestern, erlauben Sie, Fräulein Maurizius", fuhr er fort, die Damen vorstellend. „Fräulein Erna Maurizius, Fräulein Wera Maurizius und noch einmal Fräu- 52 lein Maurizius", schloß er mit verbindlicher Handbewegung auf Dori weisend. Die Damen verneigten sich schweigend und warfen beide Blicke auf ihren Bruder, in denen deutlich zu lesen war, daß sie seine Vorstellung für einen un- zeitigen Scherz hielten. „Ernst, völliger Ernst", versicherte der Bruder, „das Wunderbare ist, wie tief im Süden und hoch im Norden derselbe Name vorkommt, der sonst gar nicht verbreitet ist." „Die Sache ist nicht so wunderbar', sagte Dori, „mein Vater war auch ein Nordländer, seine Heimat war ein Pfarrhaus am Nordseestrand." „Von dorther stammen wir ja auch!" rief HerrMau- rizius aus, „alle Maurizius stammen aus jener Gegend. Da sind Sie ja unsere Cousine! Herrlich! Köstlich! Diese Überraschung! Ahnten wir es doch, mein junger Freund und ich, daß die Ankunft der Tante Dori ein freudiges Ereignis sein würde! Aber meine Schwestern haben nicht mehr gehört, woher Sie stammen, wo sind sie denn hingekommen?" „Sie sind ins Haus eingetreten, was wir nun auch thun müssen", sagte Dori, grüßte eilig und lief mit Otto die Treppen hinan nach Fräulein Smeles Stube. Sie erwartete einen steifen Empfang nach dem langen Ausbleiben. Aber 53 Fräulein Smele hatte so viel zu packen gehabt, daß sie zu keinem andern Gedanken gekommen war und die ungestörte Zeit mit Befriedigung angenommen hatte. Als bald nachher die Gesellschaft bei der Tafel versammelt war, genoß Otto von allen Speisen mit einer Beharrlichkeit, die Fräulein Smele in die höchste Lerwunderung versetzte. „Welch eine Neuigkeit für den Arzt, der das Heilmitte? so wunderbar getroffen!" mußte sie wieder und wieder sagen, „und für den Vater, der den Nachrichten mit schwerer Sorge entgegensieht!" Früh am andern Morgen, zu einer Zeit, da in der Villa Palmyra noch große Stille herrschte und alle Fenster noch mit dicken Vorhängen bedeckt waren, trat Fräulein Smele heraus, um den Wagen zu besteigen, der sie zur Station bringen sollte. Dori und Otto hatten sich früh aufgemacht, um sie zu verabschieden. „Nicht wahr, Fräulein Smele", sagte die erstere, jetzt noch am Wagen stehend, „Sie werden den Herrn Doktor beruhigen, es geht Otto ja schon recht ordentlich." .Brillant geht's ihm, über alles Erwarten gut", stimmte das Fräulein bei. „Wie wird der Arzt über die Nachricht triumphieren, denn Doktor Strahl hatte mehrmals den Ausspruch gethan: ,Jch erwarte das Heil für den Jungen von Cavandone^. Aber der Arzt hielt seine 54 Ansicht aufrecht, die Riviera werde der rechte Ort sein. Wie glänzend wird sein Ausspruch gerechtfertigt sein!" Fräulein Smele bot Dori ihre Hand zum Abschiedsgruß, der Wagen rollte fort. » Mastes Kapitel. Jeden Morgen, wenn die Sonne golden am wolkenlosen Himmel stand, zogen Dorr und Otto aus, immer denselben Weg. Beide kannten nichts Schöneres, als den Gärten voller Duft und Blüten entlang zum Felsen hinauf zu wandern, dort ihre Blicke weit über das blaue Meer schweifen zu lassen und dann auf der anderen Seite zur alten Kapelle niederzusteigen. Hier war es völlig einsam, nie war ein Mensch da zu sehen. Die steinerne Bank an der Mauer hatte Otto sich als Ruhepunkt ausersehen, wo noch allerlei Gespräche stattfinden konnten, bevor dann draußen die großen Felsblöcke erklettert wurden, wo kein Wort mehr gewechselt werden konnte; die Brandung an den hohen Steinen war so gewaltig, daß sie jeden Ton verschlang. Aber es war doch schön, dort draußen zu sitzen. Beide liebten ihr wogenumtostes Felsstück, wo die Sonnenstrahlen, die auf sie fielen, doch vorweg eine gute 56 Kühlung erlitten durch den Gischt der Wogen, der unaufhörlich an den Steinen emporsprang und sie öfters mit seinem feinen, kalten Sprudel übergoß. „Weißt du, daß wir heute schon zwei Wochen mit einander hier sind?" fragte Dort, als sie sich eben wieder mit Otto auf der steinernen Bank bei der Kapelle niederließ; „ich begreife nicht, wie diese Tage vergangen sind." „Und ich noch viel weniger, Tante Dori", behauptete Otto, „sonst war ein einziger Tag länger, als diese zwei Wochen, und eine Nacht noch viel länger". „Du rufst mich jetzt so wenig, Otto, während der Nacht nie, und beim Einschlafen so selten, wie ist das?" fragte Dori. „Du weißt ja, daß du mich immer rufen darfst, wenn du nicht schlafen kannst.' „Gerade darum ist es gar nicht mehr nötig", meinte Otto. „Wenn ich in der Nacht erwache, so weiß ich gleich, du bist ganz nahe und hörst mich gleich. Das macht mich so sicher und froh, daß ich gar nichts weiter denken muß; dann schlaf ich wieder ein. Und so ist's auch vor dem Einschlafen am Abend, mir ist so wohl, weil du nebenan bist, daß ich viel schneller einschlafe." „Wir wandern auch so viel und die Luft ist so herrlich", sagte Dori wieder. „Heute müssen wir aber nach- I 57 Hause schreiben, erst an deinen Vater, dann an die Mutter in Cavandone. Du willst ihr doch auch ein Wort sagen, Otto, nicht wahr?" „O natürlich, ich habe ihr auch so viel mitzuteilen", sagte Otto bereitwillig. „Nur schon von dem Herrn Maurizius, der durchaus dein Vetter sein will. Ich will sie fragen, ob sie das glaubt, ich glaube es gar nicht. Er will nur durchaus eine Freundschaft mit dir schließen, das merke ich ganz gut; er sieht dich immer an bei Tisch und sobald die zwei Fräulein ihn nur einen Augenblick in Ruhe lassen, so fängt er gleich mit dir zu sprechen an. Sie thun es ja nie, die Fräulein, warum thut er es denn? Weil er Freundschaft mit dir machen will, ich sehe es ganz gut." „Was du doch für Entdeckungen machst, Otto!" sagte Dort lachend. .Es ist ja einfache Höflichkeit, die jeder dem andern erweist, daß man sich dann und wann ein Wort sagt, wenn man täglich zusammen zu Tisch sitzt. Wenn die beiden Fräulein so viel mit ihrem Bruder zu sprechen haben, daß sie nicht auch noch zu einer Unterhaltung mit mir kommen, so finde ich das recht nett. Sie wissen auch so viel. Sie kennen alle Theater und alle Stücke, die da gespielt werden, und so viele Bücher, von denen ich nie- 58 mals auch nur die Titel habe nennen hören. Ich bin recht froh. daß sie nicht mit mir zu sprechen anfangen über alle die Dinge, die sie verhandeln, ich wüßte nichts zu sagen." „Die eine von ihnen, sie heißt Erna, ich weiß es", sagte Otto wieder, .spricht immer so kurios, sie sagt so viele fremde Worte, die man gar nicht versteht. Glaubst du, sie thue das, weil sie nicht weiß, wie man im Deutschen sagt, oder damit nicht alle Leute verstehen, was sie meint?" „Nein, nein, keines von beiden, was denkst du dir denn für Sachen aus, Otto! Sie thut wohl so, weil sie vielleicht oft im Ausland war und andere Sprachen hörte; nun kommt es ihr so durcheinander, wenn sie erregt ist." „Sie kann ja nicht immer erregt sein und sie thut es in jedem Satz", behauptete Otto mit Zähigkeit. „Pass' nur einmal auf, Tante Dori." „Ach, da sind Sie ja", ertönte plötzlich eine Stimme von der Straße herunter. „Das ist also der Orkus, der Sie verschlingt, daß kein Sterblicher Sie mehr finden kann, sobald die Thore des Speisesaales sich hinter Ihnen schließen." So sprechend war Herr Maurizius von der Straße herabgestiegen und stand mit den letzten Worten vor der steinernen Bank. 59 „O wir sind nicht immer hier", sagte Otto schnell. „Manchmal sind wir an einem ganz anderen Platz, wo kein Mensch uns finden kann." „Mein junger Freund Cerberus, du bist ein wachsamer Hüter und deine Wachsamkeit ist löblich, ich werde dich gleich unterstützen dabei", sagte Herr Maurizius lachend. „Sie erlauben, mein Fräulein, daß ich mich als Schutz zu Ihrer linken niederlasse, während ihr schwarzlockiger Ritter Sie zur rechten beschützt." Er wollte eben ausführen, wozu er sich die Erlaubnis erbeten hatte, aber Dori war schon aufgestanden. „Ich danke Ihnen, Herr Maurizius, so viel Schutz habe ich aber wirklich nicht nötig", sagte sie mit einem lustigen Lächeln. „Wir wollen Ihnen aber nun die ganze Bank überlassen, eben waren wir im Begriff, aufzubrechen und zu einer notwendigen Arbeit zurückzukehren." „Dann erlauben Sie, daß ich Sie nachhaus geleite!" Herr Maurizius stellte sich schnell an Doris Seite; die drei stiegen zur Straße hinauf. „Das muß ich sagen", fuhr er fort, als sie auf der breiten Straße bequem nebeneinander hergingen, „wer das blasse Männchen mit dem matten Blick bei seiner Ankunft gesehen und schaut jetzt in das Pfirsichblütengesicht mit den hellen Augen, der 60 denkt nicht, daß er dasselbe Menschenkind vor sich habe. Die Ankunft der Tante Dori hat ein Wunder bewirkt." „Luft und Sonne hier am Meeresstrand thun wohl ihre Wunder", entgegnete Dori, „das ganze Land hier ist ja ein blühender Garten. Sie haben die Gegend wohl schon nach allen Richtungen durchzogen, Herr Maurizius?" .Unzweifelhaft! Jeder zweite Tag ist Ausflugstag in unserem Kalender, und ich glaube wirklich, da ist keine Richtung, die wir nicht schon eingeschlagen hätten", bestätigte Herr Maurizius. „Sie habe» am Ende noch gar keine Touren gemacht, sind immer hier geblieben, klebend an der Scholle?" „Die Scholle ist schön, auf der wir blieben, wir haben nach keinen Ausflügen verlangt", erwiderte Dori. „Ist es die Möglichkeit, Sie haben die Küste noch gar nicht befahren? Da kennen Sie noch gar nichts von diesem Lande der sonnigen Gestade und der lichtumfluteten Buchten, diesem Lande jenseits der Nacht." „Nein, von dem kenne ich wirklich nichts", bezeugte Dori. „Beim ersten Ausflug, den wir unternehmen, kommen Sie mit, mein Fräulein, schon als Cousine, natürlich der junge Beschützer ist auch dabei; das geht nicht anders." 61 „Vielen Dank, Herr Maurizius, aber ich muß für uns beide ablehnen, ich habe bestimmte Vorschriften zu befolgen, von denen gehe ich nicht ab. Ihnen aber wünsche ich noch recht schöne Tage zu Ihren Ausflügen", setzte Dori, sich verbeugend, hinzu; sie waren nun bei der Villa angekommen. „Auf Wiedersehen, Fräulein Cousine", sagte Herr Maurizius, die Verbeugung erwidernd, „aber Ihre Weigerung wird nicht angenommen; Vorschriften sind kein Grund. Unbilliges verlangt kein edles Herz, also auch kein edler Arzt. Luft und Sonne genießen kann man überall, das ist die rechte Vorschrift; der Ausflug steht fest." Dori trat mit Otto ins Haus ein; ihr Begleiter ging nach der Laube der Zitronenbäume, um zu sehen, ob er seine Schwestern da finde. Sie war leer. Er ging nach ihrer Stube. Sie saßen, jede ein Buch in der Hand, am Fenster und gähnten abwechselnd. „Wer wollte sich mit Grillen Plagen, Solang uns Lenz und Jugend blühn, An alten Pergainenten nagen, Und seine Stim in Falten zichn!" rief der Bruder eintretend. „Bitte, verschone uns mit deinen Citaten, Richard, die du zu höherer Vollendung noch mit eigenen Erfindungen spickst", sagte Fräulein Erna abweisend. Spyri, Was aus ihr geworden ist. 6 62 „Aber wer wird auch an der blütenduftenden Riviera hinter Glas und Rahmen sitzen und gähnen!" rief er wieder aus. „Und wer wird denn immer umher rennen können!" entgegnen Erna, „und mit der Gesellschaft ist's ja gar nichts in diesem Haus." „Eben jetzt habe ich euch zum nächsten Ausflug eine liebenswürdige Dame eingeladen, ihr Anblick wird euch erfreuen", sagte der Bruder. „Wo hast du denn diese Dame gefunden, bei der du gleich eine Einladung anbringen konntest?" fragte die Schwester Wera verwundert. „Auf der Straße", war die Antwort. „Ach geh, Richard, das ist ein schlechter Witz", sagte Wera ein wenig enttäuscht. „Nein, es ist kein schlechter Witz, es ist Fräulein Mau- rizius", entgegnete er. „Wirklich ein neuer Anblick", bemerkte Erna spöttisch; „täglich sitzt sie uns gegenüber zu Tisch im gleichen grauen Kleid, und wir können ihre Unterhaltung hören mit dem Jüngelchen aus der Capitale, von dem sie sich Tante nennen läßt. Der sieht übrigens recht gut aus, er muß aus gutem Hause stammen." 63 „Ich hege die Ansicht, daß auch sie nicht übel aussieht in ihrem grauen Kleid, das ihr so knapp sitzt bis zum Hals hinauf, als wäre sie hinein gewachsen", sagte der Bruder. „Und dies wellige, braune Haar über den glänzenden Augen ist wieder nicht übel anzusehen, und wenn sie so hereinkommt, frisch wie der Morgen und wie eine Tanne schlank, da muß man mit deinen Worten sagen: ,die sieht übrigens recht gut aus', und aus gutem Hause wird sie auch stammen, trägt sie doch unseren Namen." Richard schlug sich an die Brust und lachte auf. „Es weiß kein Mensch, woher sie stammt", warf Erna hin, „daß sie die Tante des Jungen sei, davon ist keine Rede, überhaupt soll sie gar keine Verwandte des Hauses sein, eine Art Pflegerin des Jungen war sie längere Zeit, das weiß ich von der Dame, die den Jungen hergebracht hat." „Unsere Verwandte ist sie sicher, das laß ich mir nicht nehmen", behauptete der Bruder; „ihr Vater stammt aus unserer Gegend und da sind die Maurizius sich alle verwandt, sind auch gar nicht in großer Zahl vorhanden. Übrigens erinnere ich mich ganz gut, daß bei Borkum oder dort herum, wo wir unsere Badekuren machten, ein alter Pastor Maurizius war, den man zu besuchen pflegte, er 5 * 64 war, wie ich glaube, der Bruder unseres Großvaters, folglich ist die Verwandtschaft gar nicht so fern." .Keine Rede davon, jener alte Pastor war ein ferner Vetter des Großvaters", sagte Erna rasch. ..Also weißt du's? Seht mir die Schlauheit an", lachte der Bruder. „Sie weiß, daß unsere Großvater Vettern waren und will es nicht sagen, damit die Enkel nicht Vettern sein sollen. Ich glaube ganz sicher, jener Pastor war ein Bruder des Großvaters, ich erinnere mich, daß wir ihn Onkel nannten." „Verliere doch nicht so viel Worte an mich um eines Gegenstandes willen, der mich langweilt", sagte Erna abweisend. „Erna, du bist eine Persönlichkeit, die man nur in der Gesellschaft treffen sollte", erklärte der Bruder, sich vor sie hinstellend, „da bist du der liebenswürdigsten eine, da sprichst du entweder englisch oder sonst mit Engelzungen, bist du aber mit deiner Schwester und deinem Bruder im Alltagsleben zusammen, so sprichst du mit unverkennbarer Menschenzunge ein unverblümtes Deutsch." „In Gesellschaft ist ja jedermann ein wenig in gehobener Stimmung, das kannst du nicht nur Erna vorwerfen", sagte die Schwester Wera verteidigend. llt. 65 „Ganz richtig", stimmte der Bruder bei, „daher die schwierige Aufgabe desjenigen, der sich prüfen soll, Eh' er sich ewig bindet, Ob sich das Herz zum Herzen findet! Die Menschen lernen sich eben in Gesellschaft kennen, wie wird aber die Erwählte nachher im ungehobenen Zustande sich entfalten?" „Wie kommst du denn zu solchen Betrachtungen wie vom Zaun gerissen?" fragte Erna, indem sie dem Bruder einen forschenden Blick zuwarf. „Es kommen Fremde, kommt hierher", rief Wera den Geschwistern zu, diese zu ihrem offenstehenden Fenster her- winkend. Einträchtig guckten jetzt alle drei Köpfe aus demselben Rahmen; allen dreien war neue Gesellschaft willkommen. Zwei junge Damen waren ausgestiegen und schritten schweigend und aufrecht dem Hause zu. Der Herr blieb sitzen, bis der Hausknecht an den Wagen herantrat. Jetzt streckte er stumm den Arm aus, wies auf das reichliche Gepäck, das den Wagen füllte, dann stieg auch er herunter und schritt den Damen nach. „Rule Lrituuia, rule vaves", begann Richard zu singen. 66 „Es ist ein wahres Glück, daß Engländer ankommen, so kann man hoffen, daß endlich eine gesellschaftliche Unterhaltung in der Villa Palmhra zustande komme", bemerkte Erna. „Sie sind musikalisch, unter den Gepäckstücken lag ein ganzer Stoß Notenhefte zusammengebunden", teilte Wera mit. „ Sie kommen wohl nur von einem anderen Orte der Riviera her mit dem ganzen Haufen kleiner Gepäckstücke." Noch an demselben Abend hatte Fräulein Erna die Genugthuung, die neu angekommenen Gäste nach der Abendtafel im Gesellschaftszimmer zu finden. Der große Stoß von Notenheften, den Wera bemerkt hatte, war auch schon dahin gebracht worden. Das gab Erna Gelegenheit, ein musikalisches Gespräch mit den Damen einzuleiten, durch welches sie mit Liebenswürdigkeit auch den Herrn anzuregen verstand, der vorher halb schlafend hinter einem ungeheuren englischen Zeitungsblatt gesessen hatte. Die Damen spielten alle mögliche Musik, am liebsten vierhändig, wie sie auf Ernas Fragen mitteilten. Ihr Begleiter, der Gemahl der älteren der beiden Schwestern, war, wie diese Erna versicherten, auch ein ungeheurer Musikfreund, jeden Abend mußten sie ihm mehrere Stunden lang vorspielen, Altes und Neues, Ernstes und Heiteres, Opern- und Kirchenmusik. „In der That", bestätigte der Herr selbst, „ich finde alle Musik schön, was es auch sei, wenn man mir nur Musik macht. Aber gut muß sie ausgeführt sein, das versteht sich, fix und accurat, das muß sein. Das verstehen nun meine Damen brillant", setzte er erfreut hinzu. Herr Maurizius und seine Schwester Wera hatten sich der musikliebenden Gesellschaft auch angeschlossen und von allen Seiten wurden nun die englischen Damen zum Klavierspiel aufgefordert. Sie folgten dem Wunsche der Gesellschaft und spielten vierhändig ein Stück nach dem andern fix und accurat, wie ihr Begleiter angezeigt hatte; nur war es sonderbar, daß durch die Art ihres Spiels die verschiedensten Musikstücke der verschiedensten Meister so ähnlich tönten, als kämen sie alle aus einer Hand und hätten denselben Sinn zu offenbaren. Nach einiger Zeit wurde Fräulein Erna zum Singen aufgefordert und von der Familie Castlewall so beklatscht und bewundert, daß sie mit Vergnügen dem fortdauernden Drängen nachgab und weitersang, bis die späte Stunde die Gäste zwang, sich zurückzuziehen. Von dem Tage an hörte Dori in ihrem Zimmer allabendlich die Klänge der Musik vom Saal Herauftönen bis in die späte Nacht hinein, und oft erklangen sie schon am Morgen wieder und 68 klangen noch fort, wenn sie mit Otto von dem gewohnten Morgenspaziergang zurückkehrte. „Das wird dem Papa gefallen, wenn er kommt, daß so viel Musik im Hause ist", sagte Otto, als sie aus dem Zimmer tretend eben wieder einen lieblichen Gesang ertönen hörten. „ Du solltest nur wissen, Tante Dort, wie gern er Musik hört! Und Oskar auch", fuhr Otto zu erzählen fort, als sie nun die Straße hinaufwanderten, „der hat auch so gern Musik, er spielt auch Klavier und will ein Musiker werden. Aber dann will er auch wieder ein Seemann werden, und wenn er nun hier das Meer sieht, und die Schiffe draußen, dann will er gewiß erst recht ein Seemann sein. Aber auf einmal sitzt er dann wieder am Klavier-und will nur noch singen." „ Er weiß wohl noch nicht recht, was er will, der junge Herr Oskar", sagte Dori. „Wie ist denn dein zweiter Bruder? Ist er auch so lebhaft und unstät?" „O nein, Waldemar ist ganz anders, der will ein Pfarrer werden, das will er nun schon immer und nie etwas anderes", berichtete Otto. „Aber siehst du, Tante Dori, ich wollte noch lieber, er wäre so wie Oskar, er ist so schrecklich still und sitzt nur so nachdenklich da und sagt nichts." 69 „Spricht er denn nicht zu seinem guten Vater?" fragte Dori. „Nein, das thut er nicht. Aber der Papa sagt auch nicht, daß er's thun soll. Er sieht ihn nur so an und dann sagt er zu ihm: .Armer Waldemar, dir fehlt die Mutter'. Zu mir hat er auch oft so gesagt, seit ich krank geworden war." „Ich freue mich, deine Bruder kennen zu lernen", sagte Dori lebhaft, „und endlich einmal wieder deinen Vater zu sehen, darauf freue ich mich auch sehr. Du doch gewiß auch, Otto, recht sehr, nicht wahr?" „Ja, ja, gewiß freu'ich mich", versicherte Otto. „Aber siehst du, Tante Dori, ich fürchte etwas, wenn du nur das nicht thust: Wenn nun meiv Papa kommt, und ich bin so gesund, so sagt er vielleicht, ich könnte nun mit ihm heimkommen, dann giebst du ihm vielleicht recht. Aber ich muß wirklich mit dir nach Cavandone gehen, oder ich muß wieder krank werden." „Nein, das sollst du nicht, mein Junge. Cavandone steht fest", versicherte Dori. „Wenn dein Vater ein Versprechen gegeben hat, so zieht er es nicht wieder zurück. Komm, und sei ganz fröhlich, wir verleben unseren Sommer zusammen in Cavandone." 70 Der Meerwind stieg heran und wie in Heller Freude winkten alle Blumen am Wege mit ihren sonnigen Kelchen den beiden Herankommenden entgegen. Die helle Freude lachte auch aus Doris und Ottos Augen, wie sie nun durch Wind und Sonne Hand in Hand über den Felsenrücken zu ihren meerumtosten Steinblöcken niederstiegen. Sechstes Kapitel. Schon mehrmals hatte Richard Maurizius Dori aufgefordert, am Abend nach dem Gesellschaftszimmer zu kommen, wo nun so viel und recht schön musiziert werde. Sie müßte doch die Musik lieben, meinte er. Sie bestätigte seine Vermutung; im Gesellschaftszimmer aber war sie noch nie erschienen. Heute hatte den gar zu warmen Tag ein starkes Gewitter beschlossen. Noch tropften im Garten alle Bäume, dann und wann hörte man fernhin noch dumpfes Donnerrollen. Die Gäste verließen eben die Abendtafel. Als Dori mit Otto heraustrat, stand Herr Maurizius an der Thür. „Auf Sie warte ich, Fräulein Cousine", sagte er, „nun hilft kein Widerstreben; heut' geht's 'mal zur Musik. Im nassen Garten werden Sie nicht mehr spazieren gehen wollen, einen anderen Weigerungsgrund giebt's nicht; Sie kommen mit!" 72 „Ich danke für Ihre Freundlichkeit", entgegnete Dori, „wir ziehen uns am Abend immer früh zurück. Mein junger Patient steht unter bestimmter Vorschrift." „Aber ich bitte Sie, zu begreifen, daß dies wirklich kein Grund sein kann, daß auch Sie, meine verehrte Cousine, sich zu einer unmöglichen Stunde zurückziehen", eiferte Richard. „Nicht wahr, mein junger Freund, das siehst du selbst ein und wirst die überbesorgte Tante nicht der wenigen Genüsse berauben wollen, die uns in diesen stillen Mauern zuteil werden.' „Ich ziehe es vor, mich um diese Zeit zurückzuziehen", antwortete Dori rasch an Ottos Stelle. Sie wollte sich entfernen. „Aber Fräulein Cousine, so eilen Sie nur nicht so von mir weg, als wäre ich Ihr grimmigster Feind", rief Herr Maurizius aus, „das bin ich wirklich nicht. Ihr Verwandter bin ich, Ihr wirklicher Vetter, ich habe die Verwandtschaft mit Hilfe meiner Schwester, und mehr noch derjenigen meines guten Gedächtnisses klar herausgebracht, ich nenne Sie mit vollstem Recht Cousine. Was ich nun sagen wollte", fuhr der eifrig Sprechende fort, indem er mrt aller Höflichkeit Dori völlig den Weg ver- sperrte, „ist das: werden Sie mir auch nicht aus eigenem Wunsch nach dem Gesellschaftszimmer folgen, so werden Sie es aus Gefälligkeit thun, für meine Schwester und für mich, wir werden Ihnen so dankbar sein! Meine Schwester wollte schon mehrmals ein Lied singen, das wir beide lieben, aber da fehlt eine zweite Stimme, diese verweigern Sie uns gewiß nicht, wenn ich Ihnen sage, daß Sie uns damit eine lang ersehnte Freude bereiten." „Sollten die englischen Damen denn nicht singen und Ihnen den Genuß bereiten können, den Sie ersehnen?" fragte Dori. „Man kann es nicht gerade Gesang nennen, was den Kehlen dieser Damen entsteigt", entgegnete Richard mit ernstem Gesicht, „man mußte gestern mitten im Gesänge innehalten, da die meisten Töne ausblieben." „Sie können ja gar nicht wissen, was für Töne meiner Kehle entsteigen würden, Herr Maurizius, ob ich überhaupt nur irgendwie singen kann", sagte Dori. „Sie sind längst verraten von einem, der es wissen kann. Mir scheint, unser Jüngelchen weiß da recht gut Bescheid", sagte Richard triumphierend. „Ja, ich habe schon lang erzählt, wie schön du singen kannst, Tante Dori", bestätigte Otto. 74 „Ich glaube zwar gar nicht, daß mein Gesang ist, was Sie wünschen würden", sagte Dori, „aber ich will Ihnen gern gefällig sein, wenn Sie das Lied nickt hören können ohne meine Mitwirkung. Sie machen auch oft am Morgen Musik. Sagen Sie mir, zu welcher Stunde ich da erscheinen soll, so werde ich mich einstellen; am Abend aber komme ich nicht ins Gesellschaftszimmer, das können Sie mir glauben, Herr Maurizius!" „Hat die einen Willen!" sagte der Verabschiedete, indem er sich dem Gesellschaftszimmer zuwandte. Dori stieg mit Otto nach den Schlafstuben hinauf. Sie hielt strikt an dem frühen Schlafengehen für Otto fest. Waren auch seine Nächte nun viel ruhiger, so traute Dori der schnellen Veränderung noch nicht so fest. Der Junge hatte schon längere Zeit ganz still in seinem Bett gelegen. Dori glaubte ihn schlafend. Nun rief er plötzlich mit ganz wacher Stimme: „Tante Dori, es ist nicht recht, wenn du um meinetwillen keinen Genuß haben sollst. Willst du nicht doch gehen und die schöne Musik anhören?" „Nein, Otto, das will ich nicht, das wäre kein Genuß für mich, ich bleibe hier", entgegnete Dori. Es verging wohl eine Stunde. „Tante Dori", ertönte es wieder und noch war die 75 Stimme so frisch wie vorher, „glaubst du, daß das Gewitter noch einmal kommen kann mit den furchtbaren Blitzen?" „Nein, nein, diese Nacht nicht mehr, der Himmel ist still und hell", beruhigte Dori. „Dann kannst du ja wohl zu der Musik gehen; vielleicht gingest du doch gern; ich kann gut warten, bis du wieder kommst." Dori trat in Ottos Zimmer ein. Seine großen Augen standen weit offen, da war von Schlaf keine Spur zu bemerken. „Denke nicht mehr an diese Musik, mein Junge", sagte Dori, ihm das lockige Haar aus der heißen Stirn streichend, „siehst du, ich habe keinen Augenblick mehr daran gedacht, ich habe nicht den leisesten Wunsch, dahin zu gehen. Ich lese ein schönes Buch, das ist mir viel lieber und du schläfst nun und denkst nicht mehr an diese Sache. Denke daran, wie der liebe Gott uns einen schönen Tag nach dem andern giebt, und danke ihm recht von Herzen, so thue ich auch jeden Abend zuletzt und denke an nichts anderes mehr" Nun blieb Otto still. Dori aber dachte bekümmert bei sich, es brauche wenig, um diese Nerven wieder in ruhe- _ 76 lose Aufregung zu bringen. Daß sie ihn nur hüten könnte, bis er ganz erstarkt wäre, war der tiefste Wunsch ihres Herzens. Länger als es je noch der Fall gewesen, wurden heute die musikalischen Genüsse fortgesetzt. Die Gesellschaft wurde nicht müde, Fräulein Erna nochmals und nochmals zum Singen aufzufordern. Sie erntete die höchsten Triumphe. Herr Castlewall beteuerte, wie oft er auch schon auf dem Kontinent gereist und wie viele Frauenstimmen er da auch gehört habe, Fräulein Ernas Stimme sei die erste, die in der That sympathisch genannt werden könne. Endlich aber mußte der Schluß gemacht werden. Die Gäste trennten sich. Fräulein Erna war in der liebenswürdigsten Stimmung. „Ich habe dir gleich noch eine Mitteilung zu machen, Erna, die dir große Freude bereiten wird", sagte der Bruder, indem er ins Zimmer der Schwestern mit eintrat. „Morgen wirst du erst recht lebhaften Beifall ernten, da kannst du dein Herbstlied singen, ich habe eine zweite Stimme für dich angeworben, die wird brillant sein." „Als ob heute der Beifall, der mir auch ohne Mithilfe zuteil geworden ist, nicht lebhaft genug gewesen wäre", entgegnete die Schwester kühl. „Und wer besitzt denn die brillante Stimme?" 77 „Fräulein Maurizius, unsere Cousine." „Sei doch nicht abgeschmackt mit deiner erfundenen Verwandtschaft", warf Erna dem Bruder hin, doch war ihre Stimmung heute so gehoben, daß sie nicht so schnell verdorben werden konnte, wie es sonst wohl geschah. Sie lenkte wieder ein: „Wo hast du das Mädchen singen gehört? Wie kennst du die Stimme?" „O das läßt sich schon aus ihrem Ton beim Sprechen erraten, daß die Stimme wohl klingt", erklärte der Bruder, „und überdies hat mir der Junge erzählt, daß die Tante Dort prachtvoll singe, die verschiedensten schönen Lieder, er hat mir mehrere genannt. Der Junge muß ganz gute Musik kennen.' Erna lachte: „Das muß ich sagen, schlagende Beweise bringst du für deine Behauptungen; das Urteil eines Jüngelchens, das noch auf Schritt und Tritt einer Nurse bedarf; das nenne ich glaubwürdig, Vertrauen einflößend. Und wann soll dann gesungen werden? Sie wird doch erst das Lied kennen müssen, das du hören willst?" Das paßte nun dem Bruder vortrefflich. „Natürlich, gewiß, das ist ja auch, was sie will", rief er erfreut aus. „Morgen früh will sie zur Probe nach dem Gesellschaftszimmer kommen, du bestimmst die Stunde!" Spyri, WaS aus ibr geworden ist. 78 „Gut, um zehn Uhr bin ich hier. Du kannst es ihr sagen, Richard, ich thue nichts dafür." „Vortrefflich! herrlich!" rief der Bruder aus. „Du sollst einmal erfahren, wie dein Lied tönen kann! Wirklich, Erna, gestern war es vollständig, als singest du mit einer heiser gewordenen Grille zusammen. Kaum hörte man die Stimme der Miß und was man hörte, war Zirpen." „Sei nicht boshaft, Richard, geh zu Bett!" befahl die Schwester. „Diese Castlewall sind wirklich liebenswürdige Menschen und haben einen ausnehmend regen Sinn für Musik!" Richard wußte genau, um welche Zeit Dori mit ihrem Pflegesohn zum ersten Frühstück im Speisezimmer erschien. Im Anfang seines Aufenthaltes hatte er sich gern an die späte Stunde der Schwestern gehalten und hatte sich mit diesen des Morgens gegen zehn Uhr am Theetisch Ungesunden. Plötzlich war ihm diese Stunde als zu spät erschienen. Er trat jetzt immer Punkt acht Uhr ins Speisezimmer. Da traf es sich dann, daß es genau dieselbe Zeit war, die dem jungen Patienten vorgeschrieben sein mußte, denn pünktlich zu der Stunde trat Dori mit Otto ein. Heute sprach Herr Maurizius sie gleich an und da noch niemand in der Nähe Platz genommen hatte, setzte er sich 79 Dori gegenüber. Er teilte ihr mit, daß seine Schwester sich sehr freue, das Lied, das eine zweite Stimme erfordere, durch die freundliche Mitwirkung des Fräuleins der Gesellschaft in Aussicht stellen zu können. Um zehn Uhr wollte sie das Fräulein im Musikzimmer zu einem ersten gemeinsamen Bersuch erwarten. Er hoffe, sie werde sich daselbst einsinden, das Versprechen hätte er ja doch schon von ihr. Dori meinte, es sei schade um den schönen Morgen, ihn im Zimmer zuzubringen, doch wollte sie ihr Versprechen halten. „Und du, Otto, sollst deswegen nicht um den Gang in der frischen Morgenluft kommen", setzte sie, wie sich selbst tröstend hinzu, „du gehst nur voraus und ich eile dir nachher nach, lange dauert ja wohl unsere Musikübung nicht." „Aber verschling mich nicht noch vorher mit deinen ungeheuren Augen, mein sperbernder Freund", setzte Mau- rizius hinzu, „ich werde ja deiner Tante kein Leid widerfahren lassen, bis sie wieder unter deinem Schutze steht." Otto sagte gar nichts. Als später Dori nach dem Musikzimmer ging und ihn anwies, hinauszugehen, sie würde ihm bald nachfolgen, da ging er wohl, aber nur bis in den Garten, wo er unter den offenen Fenstern des Gesellschaftssaales hin und her wanderte, gerade so weit, 6 * 80 als der Raum war, der von einem Fenster zum andern reichte. Dort trat in das Zimmer, Herr Maurizius war allein da. Er hatte alles zum Gesang geordnet, das Klavier stand geöffnet, die Notenhefte lagen bereit. „Dies ist das Lied, das Ihrer Stimme bedarf, wollen Sie es einmal ansehen, Fräulein?" fragte er, Dori ein Heft überreichend. Sie wollte es gern durchgehen, entgegnen Dori, sollte ihr die Musik zu schwer vorkommen, so würde sie vorziehen, es Fräulein Maurizius gleich zu sagen, um sie nicht unnötig zu ermüden. „O das Lied wird Ihnen keine Schwierigkeiten bereiten, die Komposition ist einfach, den Worten gemäß. Sehen Sie, hier ist die einzige schwierige Stelle." Herr Maurizius beugte sich nun auch über das Heft und zeigte Dori die betreffende Stelle. In diesem Augenblick traten seine Schwestern in den Saal. Beide blickten ein wenig befremdet auf die zwei Köpfe, die über die Noten gebeugt, sich fast berührten. Dori grüßte die Damen unbefangen und legte das Heft auf das Klavier nieder. „Ich denke, wir können gleich beginnen, wenn Sie sich die Musik etwas angesehen haben", sagte Fräulein Erna, „werden Sie begleiten?" Dori erwiderte, sie könne nicht Klavier spielen. Das 81 Fräulein setzte sich und spielte sehr gewandt das kurze Borspiel. Nun begann der Gesang. Die schwierige Stelle mußte einigemale wiederholt werden, da und dort war Dort nicht ganz dabei, aber es ging doch, das Ende war erfreulich. „Vortrefflich! vorzüglich!" rief Richard aus. „Am liebsten wollte ich es gleich noch einmal hören. Aber da ist noch ein anderer Gesang für zwei so herrliche Stimmen. Werden die Damen uns den nicht auch noch gönnen? Das schöne Lied: .Willst du in Wehmut scheiden, du sonniger Mai?'" „Ich finde, es ist genug der Wehmut und des Schei- dens mit diesem Herbstlied", fiel seine Schwester Erna ein. „Oder sollten Sie noch weiter zu singen wünschen, Fräulein?" sagte sie kurz zu Dori gewandt. .Nein, gar nicht; ich habe überhaupt nicht zu singen gewünscht", entgegnete Dori in ehrlicher Weise. „Es ist mir lieb, wenn wir zu Ende sind, so kann ich meinen jungen Schutzbefohlenen einholen, er soll nicht zu weit gehen." „O der geht nicht zu weit ohne seine Tante", sagte Richard lachend, „er steht gerade hier unter unserem Fenster. Nehmen Sie unsern Dank, Fräulein, daß Sie Ihrer / 82 Zusage so freundlich nachgekommen sind; lassen Sie uns auf ein Wiederzusammenkommen zu ähnlichem Genusse hoffen." Dori war aus der Thür getreten, die er aufgemacht hatte und nun hinter ihr schloß. Jetzt wandte sich seine Schwester Erna mit Lebhaftigkeit zu ihm. „Was soll doch diese ganze Sache bedeuten, Richard? Ich glaubte, du hättest dich mit dem Fräulein verständigt, man wollte zusammen singen, weil sie es auch wünschte; um meinetwillen mußtest du sie nicht hierher berufen, ich kann wirklich ohne sie durch Gesang erfreuen. Auch konntest du für dich sprechen und danken, wenn du wolltest, aber nicht für uns. Dein Benehmen ist uns überhaupt aufgefallen, nicht wahr, Wera? Du wirst doch nicht auf den Gedanken verfallen sein, aus lauter Langerweile hier ein Verhältnis anzuknüpfen, das du bitter bereuen müßtest, sobald du in das gewohnte Leben zurückkämest und dich wieder auf dich selbst und deine Umgebung besinnen würdest." „Gewiß nicht, aus Langerweile thue ich nichts hier, denn ich langweile mich gar nicht, besonders nicht, seitdem die neue Cousine angekommen ist", entgegnete der Bruder. „Das mögt ihr wohl wahrnehmen, daß die junge Dame mich interessiert und auch beständig in Verwunderung versetzt. Ich kann mir nicht erklären, wie sie solche Einfach- 83 heil beibehalten und zugleich solche Sicherheit in all ihrem Thun und ganzen Wesen sich aneignen konnte. Bringt sie zusammen mit wem ihr wollt, ihr könnt sie nicht verblüffen noch verwirren, sie wird still und sicher das richtige Benehmen zeigen." „Still wohl, das ganz gewiß. Wie kannst du schon so blind und urteilslos geworden sein, Richard, nicht zu merken, was solches Stillsein bedeutet", sagte Erna erregt. „Wird an der Tasel irgendein interessantes Gespräch geführt, was auch der Gegenstand sei, Kunst, Politik, Wissenschaft, sie wird nie ein Wort sagen, sie wird wohl wissen, warum!" „Sie wird jedenfalls niemals mitsprechen, wo sie nicht sicher Bescheid weiß", entgegnete der Bruder ruhig. „Es giebt Leute, die thun etwa das Gegenteil; was sie thut, gefällt mir besser. Und noch etwas gefällt mir und ärgert mich zu gleicher Zeit, wie ist das zu erklären? Da hütet die junge Dame den fremden Jungen, der sie gar nichts angeht, wie einen Juwel, opfert ihm jeden Augenblick des Tages und noch die Stunden der Geselligkeit. Dabei sieht sie nicht aus, als habe sie nun einmal eine schwere Pflicht zu erfüllen, sondern als wäre solcher Frondienst an anderer Leute Kinder eher eine Freude. Man 84 möchte wirklich auch solch ein Schützling sein und so gehegt und gepflegt werden." „Steigere dich doch nicht in solche Bewunderung hinein aus lauter Mangel an anderer Gesellschaft", sagte Erna kühl. „Eines kann ich dir sicher sagen: wenn du dieses Mädchen daheim in unserer Gesellschaft auf einem unserer Bälle inmitten deiner Freunde und ihrer glänzenden, jungen Frauen und aller andern, mit der feinsten Weltbildung ausgerüsteten jungen Damen sehen könntest, du würdest sie plötzlich ganz anders finden, als sie dir hier vorkommt, wo du gar nicht vergleichen kannst, wo man ja überhaupt über jede nur irgendwie annehmbare Gesellschaft froh sein muß. Darum sage ich dir, Richard, besinne dich, wie du mit dem jungen Mädchen sprichst, laß keine solchen Worte fallen, als wäre es uns wirklich von Wert, wieder mit ihr zusammenzukommen. Für uns ist es gar nicht so, nicht wahr Wera? Und für dich nur, bis du zur Besinnung kämest." Richard hatte während der Rede in den Notenheften geblättert. „Ah, sieh da, das könnten wir auch einmal zusammen singen", sagte er, das offene Heft vor seine Schwester legend, „das klingt so schön: 85 .All' deine Schätze, o Erde, All' dein funkelndes Erz, Wägen nicht anf den Edelstein, Den Jnwel so sein, Ein liebetreueS Herz?" Dann verließ er das Zimmer. Siebentes Kapitel. Der März war zu Ende gegangen. Die warme Aprilsonne leuchtete über die weiße Straße am Meeresstrande. Aber jeden Nachmittag erhob sich ein frischer Seewind und wehte erquickend über die Fluren. Immer voller blühten die Rosen, die goldenen Zitronen glänzten durch die grünen Zweige und überall sproßten würzige Blumen empor und erfüllten die Luft mit süßen Düften. Am frühen Morgen schon zogen Dort und Otto ins Land hinaus. Immer weiter dehnten sich ihre Gänge aus; oft stiegen sie hoch hinauf durch die Olivenwälder bis zum alten Felsenstädtchen, das seine grauen Türme und Giebel auf dem freien Berggrat zum Himmel hebt. Jeden Tag kam Otto mit rosigeren Wangen von seinen Gängen zurück. Die großen, dunklen Augen, deren matter Blick Dort das Herz zusammengepreßt hatte beim ersten Wiedersehen, schimmerten wieder in ihrem sonnigen Glanz, den Dori so Wohl an ihnen gekannt hatte. Innige Freude und Dank erfüllten Doris Herz beim Anblick ihres frisch aufblühenden Jungen. Nicht nur für sich und den gekräftigten Knaben selbst freute sie sich, aber welche Wonne mußte des Vaters Herz erfüllen, wenn er nun kommen und den geliebten Jüngsten so wiederfinden würde! Nur wenige Tage noch, und Doktor Strahl sollte, seinen letzten Nachrichten gemäß, mit den beiden älteren Söhnen in Bordighera anlangen. Die Zeit der Oster- ferien hatte eben begonnen. „Tante Dori, heute sollten wir doch einmal wieder zu dem Felsen hinaus, da waren wir viele Tage nicht", sagte Otto, als er mit Dori auf die Straße hinaustrat, um durch den hellen Aprilmorgen die gewohnte Wanderung zu beginnen. Dori war ganz einverstanden. Es wehte ein starker Südwind, die Wogen mußten heute herrlich um die Felsen tosen. Als die beiden am Ziel ihrer Wanderung angelangt waren, erkletterten sie wie gewohnt jedes sein Felsstück und setzten sich da fest. Aber kaum hatte Otto sich niedergelassen, so stieß er einen lauten Ruf der Überraschung aus, war in wenigen Sprüngen wieder unten und stürzte auf die Straße hinaus, einem Wanderer entgegen, der raschen Schrittes daher kam. In höchster Verwunde- 88 rung schaute Dort ihm nach. Der Herankommende war ein junger Bursche mit dickem Stock in der Hand, ein Ränzlein auf dem Rücken. „Ich habe ihn gleich erkannt! Ich habe ihn gleich erkannt!" rief Otto jubelnd der verwunderten Dori zu. Jetzt sprang auch sie vom Felsen herunter und rief dem Wanderer entgegen: „Giacomo! Wie kommst denn du hierher? Grüß dich Gott, Giacomo!" rief sie voller Freude aus. „Kommst du, uns zu besuchen?" „Ja, grüß' Gott. Dori! Dich zu besuchen komm' ich ^ und dir Lebewohl zu sagen, ich gehe nach Amerika", war die Antwort. „Wie? Was? Du gehst nach Amerika? Wie kann das sein! Komm, du mußt mir alles erzählen und noch so viel von zuhaus'. Komm, Giacomo!" drängte Dori den unbeweglich Dastehenden, „komm mit uns nach der Pension zurück, da setzen wir uns zusammen. Du nimmst vor allem eine Erfrischung, und dann erzählst du mir alles." „Nein, nein, ich danke, ich brauche keine Erfrischung", wehrte Giacomo, „und nach der Pension, wo die vornehmen Herrschaften mit dir wohnen, will ich nicht gehen, Dori, ich weiß schon, was da geht. Ich weiß, daß ein vornehmer Herr da ist, der dein Vetter sein will und der durchaus Freundschaft mit dir machen will, und ich bin kein kleines Kind mehr, ich weiß wohl, was daraus wird, und das will ich nicht sehen und will nicht dabei sein, denn dann darfst du die alten Freunde gewiß nicht mehr kennen. Darum gehe ich nach Amerika. Aber vorher wollte ich dir Lebewohl sagen, ich werde dich wohl nicht mehr sehen." Dori schaute mit Erstaunen auf den alten Freund, dem zornige Erregung und Freude des Wiedersehens abwechselnd aus den schwarzen Augen blitzten. Sie nahm ihn besänftigend bei der Hand, wie sie schon in frühen Kinderzeiten zu thun gewohnt war: »Komm mit mir, Giacomo", sagte sie freundlich, „was du dir für Dinge einbildest, begreife ich nicht. Willst du nicht nach unserer Wohnung kommen, so steigen wir hier zur Kapelle nieder und setzen uns auf die Steinbank, da können wir alles ruhig besprechen." Dann führte sie ihn der Stelle zu. Sobald sie sich niedergelassen hatten, wollte sie vor allem wissen, woher er denn die Nachrichten habe, von denen er eben gesprochen und die ihn zu ganz unrichtigen Schlüssen gebracht haben. Sie vernahm nun, daß die Großmutter Maja sie ihm mitgeteilt, und daß sie den Briefen entnommen seien, die Frau 90 Maurizius von Otto erhalten hatte. Dieser bestätigte dann auch eifrig, daß er der Mutter Maurizius alle Erlebnisse von Bordighera und seine Ansichten darüber mitgeteilt hatte. Nun Dori die harmlose Quelle der Nachrichten kannte, konnte sie erst recht unbefangen darüber sprechen, wie irrig sich Giacomo die Sache vorgestellt habe. Sie ließ diese dann auch gern fallen und wünschte nun von ihm zu hören, wie er denn zu dem Gedanken gekommen sei, gerade nach Amerika zu gehen, ob ihn vielleicht Bekannte dort erwarteten. Giacomo hatte sich unterdessen beruhigt und erzählte nun, an Frau Maurizius sei von einem alten Freunde in ihrer Heimat, einem Gärtner Melchior, geschrieben worden, gute Freunde aus Amerika, bei denen er vor Jahren gearbeitet hatte, hätten ihn angefragt, ob er einen Sohn oder Verwandten habe. der sich auf die Gärtnerei so gut verstände wie er, und ob er einen solchen hinüberschicken wollte, wenn er nicht daran denke, noch einmal selbst zu kommen, was sie vor allem begehrten. Daran denke er nun gar nicht, aber an den jungen Gärtner habe er gleich gedacht, von dem Frau Maurizius ihm geschrieben hatte, er gehöre wie zu ihrem Hause. Er meinte, den wollte er am liebsten empfehlen, und er könnte sagen, der junge Mann gehe seinem Glück entgegen. Die Freunde, die ihn für ihre Arbeiten begehrten, seien Männer, bei denen ein Junger nur das Beste sehen und lernen könne. „Du siehst, Dort", schloß Giacomo, „wenn es mein Glück ist, so habe ich es dir und deiner Mutter zu danken, wie alles, was ich bin und habe." Dori brach in einen völligen Jubel aus: „O, wie freue ich mich!" rief sie aus, „wie freu ich mich! Was vom Gärtner Melchior kommt, das ist gut, das führt zum Rechten. Wenn du zu seinen Freunden kommst, dann bist du gut aufgehoben, dann reise nur, Giacomo, nun ich das weiß, kann ich mit voller Freude an dein Fortgehen denken." „Also soll ich gehen, Dori, du bist ganz dafür? Siehst du, deswegen bin ich eigentlich auch hierher gekommen, um dich noch zu beraten, ob ich es thun soll. Frau Maurizius und die Großmutter waren beide gleich erfreut über den Antrag; aber ich wollte doch zuerst noch wissen, was du dazu sagst", setzte Giacomo in der alten, kindlichen Weise hinzu, „du hast doch immer am besten gewußt, was gut für mich war." „Ja, das ist nun etwas sehr Gutes!' sagte Dori bestimmt. „Nun kommst du in die Welt hinaus und siehst so viel Neues und kannst so viel lernen! Wie neu und reich wird dir das Leben vorkommen, wenn du nun in die 92 weite Welt hinaus kommst, wo du so viel sehen wirst, das du nie kennen lernen würdest, wenn du für immer in Pal- lanza und Cavandone sitzen bleiben müßtest, und später kannst du ja wieder in die Heimat zurückkehren." „Ja, und ich wollte den sehen, der in Cavandone bleiben möchte, wenn du nicht mehr dort bist", fiel Giacomo ein. „Laß doch diese Einbildung fahren", sagte Dori rasch. „Erzähl mir nun, wohin du zunächst reisen wirst, oder kehrst du noch einmal nach der Heimat zurück?" Giacomo berichtete, nun gehe er nicht mehr heim, da Dori ihm so bestimmt zum Fortgehen rate, werde er gleich den Bergen zu und hinüber nach dem Engadinerthal zum Gärtner Melchior reisen. Dieser hätte ihn dazu aufgefordert, denn er wünschte noch alles mit ihm zu besprechen; er hätte ihm wohl auch noch manchen guten Rat zu erteilen. „O du gehst zu meinem guten alten Freund Melchior, den mußt du tausendmal von mir grüßen", rief Dori aus, „und mußt ihm sagen, daß ich von Jahr zu Jahr hoffe und wünsche, ihn wiederzusehen, und daß ich ihm hundertmal im füllen danke für das Gute, das er an mir gethan hat." 93 „Das muß ein Rechter sein, von dem du so sprichst, zu dem geh' ich gern", sagte Giacomo. „Und dann thust du mir wohl noch einen Gefallen", fuhr Dori mit Lebhaftigkeit fort, „weil du doch dort so nahe bei meinen Verwandten bist, denn Sint, wo der Gärtner Melchior wohnt, ist nicht weit von Schuls, er zeigt dir gewiß den Weg dahin. Dann suchst du meine alte Urgroßmutter auf, sie nennen sie alle die Nonna, und bringst ihr meinen Gruß und sagst ihr auch, sie soll mir vor allen meinen lieben Better Niklaus grüßen und auch die anderen Verwandten. O wie liegt die Zeit so weit hinter mir, da ich dort in Schuls lebte, und doch stehen sie mir alle so frisch im Gedächtnis, mit denen ich dort zusammen war, und das Land fast noch mehr als die Menschen. nur gerade den Vetter Niklaus und den alten Melchior ausgenommen. Mir ist, ich sehe gerade vor mir den felsigen Pisok, mit den grauen Wolken auf seinem Rücken." Giacomo versprach, alles recht auszurichten und noch von Sint aus an Dori zu schreiben und ihr über alles Nachricht zu geben, auch darüber, wie er seine Reise fortsetzen werde. Daß er dann auch bald von drüben schreiben sollte, wie es ihm ergehe, mußte er nun noch bestimmt versprechen. Nun stand er auf, um seinen Weg fortzusetzen, SPyri, WaS aus ihr geworden ist. 7 94 und da er dabei blieb, nicht in das Pensionshaus eintreten zu wollen, hielt ihn Dori auch nicht länger zurück. Ihre herzlichen Abschiedsworte und Ottos lebhafte Glückwünsche zu der weiten Reise nahm Giacomo schweigend hin. Er schüttelte nur die beiden dargebotenen Hände noch einmal und noch einmal, dann zog er seine Straße. Auch Dori kehrte schweigend an Ottos Seite nach ihrer Wohnung zurück. Die Erinnerungen der vergangenen Zeit waren so lebendig in ihr aufgestiegen, daß ihre Gedanken ganz davon in Anspruch genommen waren. In ihrem Zimmer fand sie einen Brief vor; die Schriftzüge paßten so gut zu den Erinnerungen, die eben in ihr wach geworden waren; wie oft hatte sie dieselben angeschaut und sich eingeprägt, wenn sie in jener oberen Stube, die auf den Pisok hinüberschaute, die Strophen las, die der verehrte Lehrer für die Schülerin hingeschrieben hatte, wo das Buch mangelte. Der Brief war von Doktor Strahl. Er zeigte seine Ankunft mit den Söhnen für den folgenden Tag an. Otto verkündete in seiner Freude die Botschaft so laut und lebhaft bei Tisch, daß jedermann davon in Kenntnis gesetzt und in angenehmer Weise berührt wurde; denn neue Gäste waren nach den langen, wechsellosen Wochen sehr willkommen. So wurde mit allseitiger Spannung der Ankunft der Erwarteten entgegengesehen. 95 Am folgenden Abend, als der Hotelwagen, der die Fremden bringen sollte, erwartet wurde, wanderten die drei Geschwister Maurizius hin und her auf dem Balkon des Hauses, von dem man bequem die Zufahrt zum Hause übersehen konnte. Nun rollte der Wagen heran. Dori und Otto kamen aus dem Hause herausgelaufen. Ein hochgewachsener Herr schwang sich gewandt vom Wagen herunter. „Der sieht nicht übel aus", bemerkte Richard. „Sogar sehr gut sieht er aus", sagte seine Schwester Erna, „noch so jugendlich schlank und doch Vater von den zwei aufgeschossenen Bürschchen, wer würde das glauben!" „In dem lockigen, schwarzen Haar sehe ich aber da und dort glänzende Fäden durchschimmern, das spricht von etwas anderem als von Jugend", meinte ihr Bruder. „Du wärest wohl froh, wenn in zehn Jahren solch dichtes Kraushaar deinen Kopf zieren würde, Richard, da nähmest du die Silberfäden gern mit in den Kauf auf deinen Scheitel, er fängt jetzt schon sich zu lichten an", sagte die Schwester. Richard strich mit beiden Händen über sein schön gescheiteltes Haar: „So schlimm ist es nicht", erwiderte er befriedigt. „In zehn Jahren? Ja, so wird's sein; zehn 7 * 96 Jahre kann der Herr wohl mehr übernehmen, als ich sie habe, zwölf können es auch sein, vierzig vorüber, da sind meine zwanzig und sieben ein reines Kinderspiel dagegen. Du hast deren noch zwei mehr, Erna." „Übertreib doch nicht immer, Richard, anderthalb sind es, gerade so viel, wie du deren mehr hast, als Wera." „Seht doch, wie sonderbar", fiel diese eben ein, „der ältere ist ganz so schwarzlockig wie der Vater, und so ist ja auch der jüngste, und der zweite dort ist völlig hellblond." „Das kommt ja vor", bemerkte Erna; „was ich viel sonderbarer finde, ist, wie lange der Herr dem Fräulein die Hand schüttelt. Er hat ihr ja wohl zu danken, das ist begreiflich, aber ihr gleich beide Hände zu schütteln — dann noch einmal, nun wird's doch genug sein." „Und wie dem Fräulein die helle Freude aus den Augen leuchtet, so habe ich meine Cousine noch nicht gesehen!" setzte der Bruder hinzu. „Sie darf auch zufrieden sein, daß er ihr seine Dankbarkeit in solcher Weise zeigt; das thut nicht jeder, nicht einmal für Dienste, die ganz andere Opfer fordern, als Spazierengehen an der Riviera mit einem Jungen, der ja offenbar gar nicht mehr krank ist", sagte Erna. „Damit sind gewiß die Opfer gemeint, die du täglich 97 für meine Erziehung bringst", setzte Richard schnell ein. „Wer hätte ihm sein Benjaminchen gehütet, wie diese sogenannte Tante es that! Wie zärtlich der seinen Jungen umfaßt! Wer hätte so 'was hinter dem strammen Herrn mit den Adleraugen gesucht!" Die Familie war nun ins Haus eingetreten. Auch die drei Geschwister traten hinein, die Glocke zur Abendtafel mußte bald ertönen. Dori führte die neu Angekommenen erst nach dem Empfangszimmer, denn noch waren ja die Begrüßungen nicht recht zu Ende gekommen; vor dem Hause waren doch nur die ersten, eiligen Worte gewechselt worden. Die drei Brüder hatten sich gleich eine Menge Mitteilungen zu machen, die nun alle zu gleicher Zeit in so lebhafter Weise überliefert wurden, daß kaum einer der Sprecher mehr als seine eigenen Worte verstehen konnte. Doktor Strahl erfaßte noch einmal Doris Hände: „Nun lassen Sie mich endlich ein Wort deS Dankes sagen für alles, was Sie für meinen Jungen, was Sie für mich gethan haben", sagte er mit Herzlichkeit. „Wie ist es nur möglich, daß er wieder so frisch vor mir steht, wie damals, als er mir von Cavandone zurückkehrte! Komm her, Otto, laß dich noch einmal recht anblicken!" 98 Otto stellte sich vor seinen Vater hin. „Weißt du auch, mein Junge, welchen Dank wir der Tante Dort schulden? Wie anders schaust du mich an, als da du abreistest! Du bist ja wieder ein ganz anderer Mensch geworden!" „Wir haben auch schöne Tage hier zusammen verlebt, nicht, Otto?" sagte Dori. „Die haben wir Ihnen zu danken, Herr Doktor.' „Sie haben mir zu danken? Das ist ganz, wie Sie sind, aber auch nur Sie, Fräulein Dori! — Darf ich Sie denn auch noch so nennen?" „Ob Sie dürfen, Herr Doktor?" entgegnete Dori. „Wenn Sie mich anders nennen würden, müßte ich denken, ich sei für Sie eine Fremde geworden, Sie haben die vergangenen Tage ganz vergessen." „Vergessen", wiederholte der Doktor, „wie sollte ich ene schönen Tage in dem lieben, füllen Schuls je vergessen! Jene Tage, da Sie meine Schülerin und Lehrerin zu gleicher Zeit waren!" „O Herr Doktor, Ihre Schülerin war ich jederzeit", rief Dori aus, .auch dann, wenn Sie meinten, Sie wollten das Italienische von mir erlernen. Ich weiß am besten, was ich Ihnen von meiner Kenntnis dieser Sprache zu verdanken habe." 99 „Ja, Papa, es war so prachtvoll, wie wir's zusammen hier hatten!" fiel nun Otto ein, „es giebt nur eines auf der Welt, das noch schöner ist, das ist unser Leben in Cavandone! Wenn du nur einmal dahin kommen wolltest, dann wüßtest du's." „Papa, nun möchten wir auch einmal diese Tante begrüßen, wir kennen sie eigentlich schon recht gut, Otto hat ja von niemand anders gesprochen, seit ^wir wieder daheim sind/ Mit diesen Worten trat der älteste der Brüder vor Dort hin und machte eine Verbeugung. Dori reichte ihm die Hand, die er nun kräftig schüttelte. Der Blick der lebendigen, dunklen Augen, der frei erhobene, von reichem Kraushaar umrahmte Kopf, kam ihr vom Vater und seinem Jüngsten her so bekannt vor, daß auch sie die Hand des aufgeschossenen Bürschchens wie die eines alten Bekannten drückte und schüttelte. „Es7ist wahr, die Vorstellung vor dem Hause war so flüchtig, daß man kaum Bekanntschaft machen konnte", sagte Doktor Strahl, .komm heran, Waldemar, begrüße auch du Fräulein Maurizius." Ein noch schlankeres, etwas kleineres Bürschchen als der Älteste stellte sich mit stummer Verbeugung vor Dori 100 hin. Sie hielt ihm ihre Hand entgegen. Er berührte sie kaum und zog sich wieder zurück. „Er ist seinen Brüdern nicht gleich, das finden Sie wohl auch", sagte Doktor Strahl zu Dort gewandt. „Er ist das Bild meiner seligen Großmutter, einer Pastorenfrau, deren wohlthuend sanfte Stimme mir unvergeßlich ist. Sie war eine stille, nach innen gekehrte Natur. Nicht nur äußerlich trägt Waldemar ihr Gepräge." Der Ruf zur Tafel hatte erklungen. Doktor Strahl zog sich mit seinen Söhnen vorerst in seine Zimmer zurück, noch hatten sie sich ja ihrer Reiseanzüge zu entledigen. Die neuen Gäste, die etwas spät Mische erschienen waren, saßen noch mit Dori und Otto zusammen im Speisezimmer, nachdem die anderen Tischgenossen es alle verlassen hatten. Es war keiner der hellen Abende, die in den dufterfüllten Garten hinaus lockten. Ein leichter Gewitterregen war gefallen, jdie Wege waren feucht und am Himmel standen noch drohende Wolken, aus denen dann und wann ein Heller Blitz aufleuchtete. „An solchen Abenden versammelt man sich wohl im Gesellschaftszimmer, da werden Sie mit den Gästen, die hier zutische saßen, gute Bekanntschaft geschlossen haben", meinte Doktor Strahl. 101 Dori sagte, bis jetzt habe sie, der Vorschrift des Arztes gemäß, Otto dazu angehalten, sich früh zurückzuziehen, was sie dann natürlich auch gethan habe. „Das werden Sie doch nicht so ausgeführt haben, daß Sie dann in Ihrem Zimmer blieben und die ganzen Abende die Gesellschaft nicht aufsuchten? Doch? So thaten Sie mit allen Ihren Abenden, seit Sie hier sind?" rief der Doktor aus. .Otto, hast du denn nicht gewünscht, daß deine Tante Dori zur Gesellschaft zurückkehre und sie darum gebeten? Hast du es dulden können, daß sie um deinetwillen allem gesellschaftlichen Verkehr entsage?' „Otto hat wirklich versucht, mich zur Gesellschaft zu schicken, damit ich Musik hören könnte', sagte Dori schnell, „aber ich habe es vorgezogen, für mich zu bleiben, es war durchaus mein eigener Wunsch." Der Doktor schaute Dori mit seinen durchdringenden Augen an, er sagte nichts mehr. „Eben jetzt höre ich Musik von drüben her ertönen, wir wollen doch hinübergehen, Papa", drängte Oskar. „Wenn es Ihnen recht ist, Fräulein, so gehen wir", sagte der Doktor, „Otto ist entschieden nun auch so weit, daß er mit uns bleiben kann." Das war auch Doris Ansicht. Voller Freude hing sich 102 Otto an des Vaters Arm, um ihm den Weg zu zeigen. Aber Tante Dort mußte vorausgehen, das wollte der Vater haben. Eben ging die laut tönende Sonate zu Ende, die von den englischen Damen gespielt wurde, als Dori die Thür zum Gesellschaftszimmer aufmachte und eintrat. „Wunder der Wunder, unsere Cousine erscheint im Gesellschaftssaal!" rief eine Stimme so laut, daß aller Augen sich auf die Eintretende richteten. Herr Maurizius, der den Ausruf gethan, war aufgesprungen und kam Dori entgegen. „Nun stellen Sie uns dem großen Mann vor, der das Wunder bewerkstelligt hat; wir finden alle, er ist eine sehr sympathische Erscheinung", setzte er flüsternd hinzu. Dori erfüllte den Wunsch. Auch die Schwestern Maurizius hatten sich erhoben, da der Bruder ihnen die neuen Gäste zuführte; es folgte eine allseitige Vorstellung. „So haben Sie Verwandte hier gefunden, Fräulein?" sagte Doktor Strahl verwundert zu Dori gewandt, die zurückgetreten war, da Herr Maurizius die ferneren Vorstellungen übernommen hatte. „Gewiß, Herr Doktor", fiel dieser schnell ein, „wir haben uns gefreut, unerwartet eine Cousine hier zu treffen, und heute freuen wir uns darüber, daß endlich ihrer Klausur 103 ein Ende gemacht wird; kein heiliger Antonius konnte zäher an der seinigen festhalten." Die Blicke der Schwester Erna hätten den Sprecher schon längst in seiner Rede aufhalten sollen, er hatte sie aber nicht bemerkt. Jetzt bot er Dort einen Lehnstuhl an, der neben dem seinen stand. Fräulein Erna lud mit einer graziösen Handbewegung den Doktor ein, sich neben ihr niederzulassen. Die älteren Jungen setzten sich, wo sie Plätze fanden. Otto hatte sich gleich hinter den Stuhl gestellt, auf den Dori sich niedergelassen, da blieb er stehen. „Du mußt dich setzen, Otto, das geht nicht", sagte Dori. Sie erhob sich und schaute nach einem Sessel aus. In dem Augenblick stand Doktor Strahl rasch auf, er mußte Doris Bewegungen beobachtet und verstanden haben; schnell ging er dem andern Ende des Saales zu, wo freie Sessel standen. Oskar, der bemerkte, wohin der Vater zielte, wollte ihm zuvorkommen und lief durch den Saal; Herr Maurizius hatte sich schon auf einen Lehnstuhl gestürzt; Otto, von Dori geheißen, war ihm nachgelaufen. a kuss! Es ist Wohl der Mühe wert", sagte Fräulein Erna mit verächtlichem Lächeln zu ihrer Schwester gewandt. 104 „Es sind eben alle sehr höfliche Herren, unser Bruder nicht ausgenommen", entgegnete diese, eher anerkennend. „Daß man aber einem jungen Bengel nicht sagen kann: ,Hol dir einen Sessel', sondern umherschauen muß, bis die ganze Gesellschaft auf den Füßen ist, das zeigt ein bißchen zu viel Mangel an allem Schicklichkeitsgefühl", sagte Erna ärgerlich. Die Herren waren auf ihre Sitze zurückgekehrt, die Ruhe war wieder hergestellt. Dori entschuldigte sich bei ihrem Nachbar für die Störung, die sie verursacht hatte. Sie hätte sich nur umsehen wollen, wo noch ein Sessel zu finden wäre, denn sie wüßte wohl, daß ein Junge, der am fremden Ort zum erstenmale im Gesellschaftssaal erscheine, lieber einen ganzen Abend lang stehen bleiben würde, als daß er sich zwischen all' den Gästen durchwindend nach einem Gegenstand suchen würde, von dem er gar nicht einmal sicher wisse, ob er zu finden sei. „Das ist ganz wahr", sagte Richard lachend, „wie können Sie nur die Empfindungen eines Jungen so gut kennen, da Sie doch niemals ein solcher gewesen sein können?" „Das ist sehr einfach", erwiderte Dori, „wenn man einen Jungen lieb hat, so merkt man recht gut, wie 105 ihm zumute ist, bei allem, das man mit ihm durchlebt." Doktor Strahl sprach Erna sein Bedauern darüber aus, daß die Musik so bald verstummt war. Er fragte, ob die Damen Maurizius der Gesellschaft nicht die Freude machen wollten, ihr etwas vorzuspielen. „Meine Schwester singt mehr als sie spielt", sagte Fräulein Wera. Der Doktor bezeugte seine besondere Freude darüber, das sei die Musik, die er jeder andern vorziehe, sagte er und bat nun besonders dringend, Fräulein Erna möchte sich hören lassen. Sie erhob sich und trat ans^ Klavier, Wera folgte ihr und setzte sich hin; sie war gewohnt, die Schwester zu begleiten. „Lieben Sie Schubert, Herr Doktor?" fragte Erna, sich nach ihm umwendend, so, als hätte sie nur für den Doktor zu singen. „Gewiß, sehr, ich bitte um einige seiner Lieder", entgegnen er. Erna sang. Sie hatte eine volltönende, umfangreiche Stimme, die vortrefflich ausgebildet worden war. Sobald ein Lied zu Ende ging, brachen die Engländer in einen Beifallssturm aus. Es wurde ein neues begehrt. Das 106 Entzücken wurde immer lebhafter, immer wollte man noch mehr hören. Eben hatte die Sängerin wieder geendet; sie wandte sich zur Gesellschaft um. Doktor Strahl saß mit gekreuzten Armen in Lauschen versunken in seinem Lehnstuhl. Die Engländer fingen nochmals leidenschaftlich zu klatschen an. „Herr Doktor, haben Sie noch einen besondern Wunsch?" fragte Fräulein Erna, „sonst möchte es wohl für heute genug des Gesanges sein." „Singen Sie: ,Über allen Wipfeln ist Ruh'?"' fragte der Doktor. „Gewiß und gern", war die Antwort. Dann ertönte das Lied. Als es zu Ende gesungen war, stand der Doktor auf. Er näherte sich Fräulein Erna und drückte ihr in verbindlichster Weise seinen Dank aus für den Genuß, den sie ihm bereitet hatte. Dann trat er aus Fenster und schaute auf den Garten hinaus. Der Mond trat aus den Wolken und schimmerte aus den ausgebreiteten Zweigen der Palme mitten im Garten und über die geschlossenen Kelche der schlafenden Blumen; dann verschwand er wieder in den Wolken. Fräulein Erna hatte die englischen Damen gebeten, nun noch einiges zu spielen. Sie setzten sich hin und spielten 107 laute, schwere Stücke aus allerlei Opern. Doktor Strahl verließ ganz leise das Zimmer. Bei jeder Pause klatschte Herr Maurizius enthusiastischen Beifall und rief dringend: Zu osxo! äa eapo! Er hatte während der ganzen Zeit unter der Stimme an Dori herangeredet und wünschte, die Unterhaltung fortzusetzen. Dori hatte die Schluß- accorde eines Stückes abgewartet, dann war sie schnell aufgestanden. Ihr Nachbar wollte sie überzeugen, daß der Abend noch gar nicht als beendet betrachtet werden könne; aber sie sagte, die jungen Herren müssen müde sein von ihrer Reise und blieb dabei, sich zurückziehen zu wollen. Sehr bereitwillig folgten die beiden Jungen Doris Wink. Oskar hatte längst seine Augen suchend nach allen Seiten gerollt, ob nicht irgendwie ein Entrinnen möglich wäre. „Ach die schöne Luft!" rief er hoch aufatmend aus, als er die Saalthüre hinter sich geschlossen hatte und den Korridor entlang lief, durch dessen weit geöffnete Fenster der Blütenduft in ganzen Wogen aus dem Garten hereinströmte: ,Ob man noch einen Sprung in den Garten thun dürfte? Was meinen Sie?" fragte Oskar. „Wenn man doch wüßte, wo der Papa hingekommen ist!" „Ich glaube, er geht selbst draußen im Garten hin und her", sagte Dori. 108 „Meinen Sie? Herrlich?" Oskar war schon draußen. Richtig, dort ging der Vater rasch immer denselben Weg, den Rechen der jungen Orangen- und Zitronenbäume entlang, hin und her. Oskar lief auf ihn zu. Dort kam mit Otto langsam nach. „Wenn es Ihnen recht ist, Herr Doktor, so ziehe ich mich mit Otto zurück, ich glaube, es ist besser für ihn, als noch länger dazubleiben", sagte Dori. „Gewiß, alles ist mir recht, was Sie mit dem Jungen thun", entgegnete der Doktor; „es ist Wohl auch für die anderen Jungen Zeit zur Ruhe zu gehen, wir sind ja weit gereist heute. Ich danke Ihnen, daß Sie mich daran erinnern, ich hätte mich wohl noch länger vergessen, unter diesen lieblich duftenden Bäumen umherwandernd. Es ist recht gut, daß Sie gekommen sind." Nun ging man zusammen dem Hause zu. „Wo ist Waldemar?" fragte der Vater seinen Ältesten. „Ich weiß nicht", antwortete dieser, „ich glaube, er blieb im Haus zurück. Du weißt, Papa, er bleibt immer irgendwo zurück." An die Thür des Hauses gelehnt stand Waldemar und schaute regungslos vor sich hin. „Komm, Waldemar", sagte der Vater, ihn bei der 109 Hand nehmend und mit sich führend, „du bist wohl müde. Morgen wirst du dich mit uns freuen all' der herrlichen Blumen und Bäume und der Schönheit des Landes —". „Und des Meeres, Papa, vergiß das Meer nicht", fiel Oskar ein, „da müssen wir morgen vor allem hin." Oben an der Treppe angekommen, schüttelte man sich allseitig die Hände zum Abschied für diesen Tag. Dori hatte längst ihren letzten Besuch bei Otto gemacht. Sie hatte sich in ihrem Zimmer an das offene Fenster hingesetzt; da saß sie noch und schaute träumend in den stillen Garten hinaus. Doktor Strahls Erscheinen hatte alle die Erinnerungen, die eben in ihr wach gerufen worden, noch viel lebendiger angefacht. Sie hatte ihn nicht wiedergesehen seit jenem Tag in Schuls, da er ihr Haus verlassen und eine ungeheure Leere zurückgelassen hatte. Noch jetzt konnte sie jene Leere nachempfinden, als sie wußte, sie würde nun den Schritt nie mehr draußen hören, auf den sie täglich lauschte, denn er brachte ihr die schönste Stunde des Tages: Doktor Strahl ging dann auf sein Zimmer, um sie droben zur Unterrichtsstunde zu erwarten. „Tante Dori", rief Otto jetzt auf einmal, „wie kannst du etwas wissen, von dem man gar nichts weiß und das keiner erraten könnte?" Spyri, Was aus ihr geworden ist. 8 110 „Schläfst du denn noch nicht?" rief Dori zurück, „es fehlt dir doch nichts? Was soll ich denn besser erraten können als andere?" „Wenn doch Papa kein Wort gesagt hat und niemand etwas von ihm wußte, wie hast du denn erraten, daß er im Garten war?" „Das ist ganz einfach", erwiderte Dori. „Als dein Papa das Musikzimmer verlassen hatte, hörte ich gleich darauf seinen Schritt im Garten, das Fenster war ja offen. Nun sollst du schlafen und nicht allerlei unnützen Dingen nachdenken, mein Junge!" Nur irgendwelche Aufregung und sein Schlaf ist wieder weg, sagte sie bei sich. Aber heute ging es Dori nicht anders als ihrem Jungen. Sie hatte sich längst niedergelegt und die Gedanken des Tages abgethan, wie sie dachte; aber der Schlaf kam nicht auf ihre Augen und die abgethanen Gedanken stiegen leise wieder auf, und wenn Dori meinte, nun sei die gewohnte Stille bei ihr eingekehrt, zogen plötzlich wieder die lebendig gewordenen Erinnerungen, allen Schlaf verscheuchend, an ihr vorüber. Achtes Kapitel. Am frühen Morgen wanderte Doktor Strahl schon wieder unter den Bäumen des Gartens umher. Die jungen Orangen- und Zitronenbäume schienen ihn besonders anzuziehen; immer wieder machte er denselben Weg; es war auch die düftereichste Stelle des Gartens. Richard Mau- rizius rannte die Treppen des Hauses herunter. Von seinem Fenster aus hatte er den einsamen Wanderer entdeckt, jetzt war er an seiner Seite. Mit großer Zuvorkommenheit fragte er nach dem Befinden des Herrn Doktors, nach seiner Familie, ob er die Gegend schon näher kenne, ob es ihm lieb wäre, einige Wanderungen nach den nahen Höhen, oder auch dem Meer entlang zu machen. Der Doktor entgegnete, er warte nur auf seine Söhne, die nach der Reise sich etwas länger ausruhten, um irgendeine Wanderung anzutreten. Wie weit diese gehen dürfte, 8 * komme darauf an, was Fräulein Maurizius für sich und ihren Pflegling, seinen Jüngsten, für gut halte. „Das kann ich Ihnen genau sagen, Herr Doktor", erwiderte Richard rasch. „Meine Cousine macht derzeit so weite Wanderungen mit ihrem Pflegesohnchen, daß kein Mensch sie mehr finden kann. Somit ist klar, daß wir eine ganz erhebliche Unternehmung vorschlagen dürfen. Aber ich vergesse ja ganz, Sie erlauben doch, daß wir uns anschließen, wir werden, als die ältern Bewohner, sozusagen Sie in unserm Lande einführen und nicht ermangeln, Ihnen das Schönste zu zeigen." Mit größter Höflichkeit nahm Doktor Strahl das Anerbieten entgegen. Er sagte, seine Kenntnis des Landes beschränke sich auf eine Fahrt über die Cornische, die er vor Jahren gemacht, deren Schönheit ihm aber unvergeßlich geblieben sei. „O, da haben wir ihnen ja des Schönen noch sehr viel zu zeigen!" rief Maurizius erfreut aus: „Die Palmengruppe am Meeresstrand, dann das Felsenplateau mit seiner Fernsicht, die Villengärten auf der Höhe, massenhafte Ausflüge, die die höchste Befriedigung gewähren. Ist Ihnen 10 Uhr recht als Zeit des Auszugs? Der Garten als Ort des Zusammentreffens? Ja? Auf Wiedersehen denn, Herr Doktor!" 113 Die Treppen hinauf nach dem Zimmer seiner Schwestern rennend, sagte Richard bei sich: „Erna wird mir doch nicht etwa, von irgendeiner unerklärlichen Laune befallen, einen Strich durch die Rechnung machen wollen?" Er klopfte, trat aber so schnell darauf bei den Schwestern ein, daß er erst einen ziemlichen Schrecken verursachte, denn noch saßen die Damen in Umhüllungen, die für keinen Besuch bestimmt sein konnten, an ihrem Morgenkaffee. Der Bruder brachte schnell sein Anliegen vor und wollte nach mehreren Seiten hin die Annehmlichkeit desselben noch beleuchten, als zu seiner Verwunderung Schwester Erna sofort ihre volle Zustimmung zu dem Borschlag kundgab; auch Wera war ganz damit einverstanden. „Also um 10 Uhr bei den Zitronen- bäumen, ihr laßt doch nicht auf euch warten?" sagte der Bruder, noch einen fragenden Blick auf die rätselhaften Umhüllungen der beiden Gestalten werfend. „Ich denke, wir sind nicht die Personen, die gegen die ersten Regeln der Höflichkeit Verstöße begehen", erwiderte Erna schnell. „Ist mir sehr lieb, besonders in diesem Fall", bemerkte der Bruder und ging. Wirklich waren die Damen pünktlich zur Stelle, wo sich eben auch die Herren zusammengefunden hatten. Dori 114 war mit Otto zuerst auf dem Platz erschienen. Als sich noch niemand vorfand, hatten sie dann einen Gang durch den Garten gemacht und trafen nun auch bei der Gesellschaft ein. Da Otto wußte, daß ein allgemeiner Spa- ziergang in Aussicht stand, hielt er Doris Arm so fest umklammert, daß deutlich zu sehen war, den wollte er um keinen Preis loslassen. Richard Maurizius war an Doris freie Seite getreten und teilte ihr mit, er habe die Palmen- gruppe am Strand als Ziel der Wanderung vorgeschlagen. Fräulein Erna hatte sich in ein Gespräch mit Doktor Strahl eingelassen, so kam es, daß die beiden, neben einander hergehend, den Zug eröffneten; Dort mit ihren zwei Begleitern beschloß ihn. Zwischeninne ging Fräulein Wera neben Oskar und Waldemar einher, aber nicht sehr lange. Oskar lief schon nach kurzer Zeit unstät umher, bald nach vorn, bald nach hinten, einen erwünschten Anschluß suchend. Auch Waldemar hatte sich bald auf die Seite gedrückt und schlich weit hintennach. Kam Oskar einmal wieder an seines Vaters Seite gerannt, so hatte Fräulein Erna gleich ein liebenswürdiges Wort für ihn; doch bald war sie wieder im tiefen Gespräch mit dem Vater, das sich immer wieder um die angeregten philologischen Fragen drehte, dann lief Oskar wieder weit zurück. Fräulein Wera schloß 115 er sich nicht mehr an. So kam die Gesellschaft an den Punkt, wo sie die Straße verlassen mußte, um auf dem schmalen, steilen Fußpfad zu den Palmen am Strand nieder- zusteigen. Hier mußte je einer hinter dem andern gehen, für zwei nebeneinander zu wandern war an vielen Stellen kaum Raum genug. Otto allein ließ den umklammerten Arm nicht los, er fand auch überall Raum, seine schmalen Füße hinzusetzen. Unten bei der Baumgruppe angelangt, ließen sich die einen da, die andern dort auf den sonne- beschienenen Boden nieder. Moosbewachsene Steine und kleine Erdhügel boten überall einladende Sitze dar. Ein frischer Meerwind wehte herauf und bewegte lieblich die Kronen der schlanken Palmen. Dori saß mit Otto am Bergabhang und schaute sinnend über das weite, blaue Meer zu ihren Füßen hin. Richard Maurizius ließ sich eben neben ihnen auf den Boden nieder; er hatte mit den jungen Herren erst die alte Cisterne betrachtet, die unweit der Palmbäume, jetzt in etwas zerfallenem Zustande zu sehen war. „Wie viele durstige Pilger mögen einst auf dieser sonnenheißen Stelle an der Cisterne ihren Durst gelöscht haben!" sagte er tief aufatmend, als wäre er einer der durstenden Pilger. 116 „Ist es nicht hier ganz, als wären wir im Morgen- land angekommen? Sagen Sie selbst, Fräulein Cousine, erwartet man nicht jeden Augenblick unter diesen Palmen bei der Cisterne einen Jakob mit seiner Herde ankommen und eine Rahel herbeitreten und ihn tränken zu sehen? Würden Sie ihm zu trinken geben, wenn er ebenso vor Sie hinträte und Sie darum bäte?" „Gewiß, wenn er Durst hätte und sich nicht selbst zu helfen wüßte", entgegnete Dori ruhig. „Ja, es giebt eben allerlei Arten von Durst, Fräulein Cousine, es kann auch einen Durst geben, den man nicht selbst stillen kann! — Mein junger Freund Otto", unterbrach sich Richard hier — „willst du dir denn nicht die Cisterne recht ansetzn? Sieh, deine Brüder werfen Steine hinunter, da hören sie, wie tief der Brunnen ist, er geht in eine ungeheure Tiefe, geh, sieh dir 'mal die Sache an." „Tante Dori, möchtest du gern die Cisterne ansehn?" fragte Otto. „Nein, ich schaue lieber auf das weite Meer hinaus", entgegnete sie. „Dann schaue ich auch lieber auf das weite Meer hinaus", sagte Otto und setzte sich neuerdings auf dem grünen Steinrücken fest. 117 „Ich möchte den Moment des Tages kommen sehen, da der kleine Cerberus nicht vor Ihrer Thüre läge!" rief Richard halb im Scherz, halb im Ärger aus. „Ein guter Wächter bleibt immer aus seinem Posten", sagte Dori lachend. „Es kommt ein Gesang über das Meer her, hörst du, Tante Dori?" fragte Otto, zu ihr aufblickend. Wirklich klang es, als ob die vollen, langgezogenen Töne mit den Wellen herankämen. Richard lauschte scharf hin, dann wandte er sich der Seite zu, wo seine Schwestern mit Doktor Strahl sich niedergelassen hatten. „Ja, von dorther kommt's, es ist die Stimme Ihrer Fräulein Schwester", sagte Dori. So war es. Fräulein Erna und Doktor Strahl waren von der Philologie zur Musik übergegangen, für die sie beide das größte Interesse hatten. Sie besprachen sich über die neueren Liederkompositionen, von denen der Doktor mehrere noch nicht kannte oder sich deren nicht recht erinnerte. Um solche in sein Gedächtnis zurückzurufen oder auch um ihm eine Idee der noch nicht bekannten Melodiken zu geben, sang ihm das Fräulein dann und wann eine Weise vor. Fand der Doktor den Anfang einer Komposition nach seinem Geschmack, so sang das Fräulein wohl 118 auch die ganzen Lieder durch. Doktor Strahl ließ seine Blicke derweilen über das weithin leuchtende Meer schweifen und lauschte dazu offenbar mit Wohlgefallen den klangvollen Gesängen. Die Zeit zum Aufbruch war gekommen. Man hatte sich allseitig erhoben. Die Gesellschaft begann, wie es notwendig war, eines hinter dem andern her den steilen Weg hinanzusteigen. Auf der Straße hatten die Gruppen sich sogleich wieder so zusammengefunden, wie sie von Ansang an sich gebildet hatten. Oskar war noch ein wenig unruhiger in seinen Bewegungen als vorher. Von Zeit zu Zeit suchte er an Dort heranzukommen, aber ihre beiden Begleiter blieben ihr unentweglich zur Seite, da war kein Raum für ihn. Wieder im Garten der Villa Palmhra angelangt, trennte sich die Gesellschaft, glücklicherweise nur für kurze Zeit, meinte Herr Maurizius. „Ich werde Ihnen die betreffende Komposition heute Abend mit Klavierbegleitung vortragen, da werden Sie mir recht geben, Herr Doktor', sagte Fräulein Erna, die bis zum letzten Augenblick mit dem Doktor im lebhaftesten Gespräch geblieben war. Nun trat sie ins Haus ein. Der Doktor wandte sich zu Dori, die herankam. Er ergriff die Hand seines Jüngsten, um mit ihm einzutreten. Otto hielt » 119 auf der andern Seite Doris Arm fest. Sie löste leise die feste Klammer von sich ab. „Hör, mein Junge, ich muß dir eines sagen", sagte der Bater. „Du hast vor allem deine Tante Dort zu fragen, ob sie damit einverstanden ist, daß auf einem künftigen Spaziergang du von Anfang bis zu Ende ihr am Arm hangest, als hättest du ein Recht auf sie!" Otto schaute fragend zu Dori auf. Ganz unbewußt seinem Zuge folgend, hatte er sich soeben wieder an sie gehängt. „Wenn der Vater nichts dagegen hat, so fahren wir so fort, wie wir es schon von früherher gewohnt sind", sagte Dori. „Ein Recht hat ja doch Otto auf mich, dadurch, daß er mich lieb hat." „Ja, gewiß, Papa", fiel jetzt Otto schnell ein, „kein Mensch auf der ganzen Welt, ist mir so lieb, wie Tante Dori — als noch du", setzte er ein ganz klein wenig zögernd hinzu. „Annähernd", sagte Doktor Strahl lächelnd, seinem Knaben liebevoll das lockige Haar aus der Stirn streichend. „Ja, mein Junge, du hast alle Ursache, deine Tante so lieb zu haben, nicht jeder hat eine Tante Dori." Als am Abend die Gäste sich aus dem Speisezimmer entfernten, kam Oskar rasch hinter Dori hergelaufen. 120 „Fräulein Maurizius, kommen Sie nicht ein wenig mit uns in den Garten?" fragte er. „Sie gehen alle wieder nach dem Musikzimmcr, da ist es so langweilig und draußen ist es jetzt so schön!" „Wird es Ihrem Vater recht sein, wenn wir das thun?" fragte Dori dagegen. „O, wenn Sie mit uns kommen wollen, so ist es ihm wohl recht, er will nur nicht, daß wir Sie drängen, das hat er mir gesagt, aber Sie kommen doch freiwillig, nicht?" „Doch, gewiß, und recht herzlich gern", erwiderte Dori, „der Abend ist so herrlich! Wir wollen Ihnen die verborgenen Plätzchen unseres Gartens' zeigen, wo unter den hängenden Ästen Steinsitze angebracht sind und man überall von süßem Blumenduft umwogt ist." „O ja, so kommen Sie", sagte Oskar, „so kann ich auch einmal mit Ihnen sprechen, das habe ich schon längst gewünscht. Sehen Sie, Fräulein Maurizius, — ich wollte Sie aber viel lieber Tante Dori nennen, das wäre auch viel natürlicher, wir nennen Sie doch immer alle so, darf ich nicht?" „Gewiß dürfen Sie das thun, wenn Sie denken, daß es Ihrem Vater recht ist, mich kann es nur freuen", erwiderte Dori. 121 „O, dem Vater, natürlich ist es ihm recht, er nennt Sie ja selbst immer Tante Dori, wenn er von Ihnen spricht. Nun nennen Sie mich auch Oskar, nicht wahr? Ja, sehen Sie, wir kennen Sie schon so gur", fuhr Oskar lebhaft fort, „Ihr ganzes Leben in Cavandone und Ihre Mutter und die alte Maja." „Und Marietta und Giacomo vergiß nicht", rief Otto dazwischen. „Ja, die alle kennen wir durch Otto, der hat gar nichts anderes gesprochen, wie wir nachhause kamen, als nur von Tante Dori und wie herrlich es bei ihr war. Er hat uns auch so große Lust gemacht, einmal nach Cavandone zu kommen und auch bei Ihnen zu wohnen, daß wir den Papa gefragt haben, ob wir nicht auch einmal in den Ferien dorthin gehen dürfen, Waldemar und ich. Er hat aber gesagt, das habe er nicht zu entscheiden, wir dürften aber einmal Sie fragen, wenn wir uns dann gegenseitig gut genug kennen, daß Sie auch beurteilen können, wen Sie in Ihr Haus aufnehmen würden. Es ist nur gut, daß wir Sie nun einmal hier für uns haben, so können wir doch einmal recht Bekanntschaft machen." Man war nun bei den Steinsitzen angelangt. Oskar schlug vor, dazubleiben und sich gleich recht festzusetzen, da 122 ließe sich so hübsch weiter sprechen; denn er hatte im Sinn, noch viel mit Tante Dori zu verhandeln. „Kommen Sie doch auch zu uns her, Waldemar, wir wollen uns doch auch kennen lernen", sagte Dori freundlich, indem sie sich nach dem Zurückgebliebenen umsah; „Sie bleiben immer fern. Wollen Sie nicht gern bei uns sein?" „Doch, ich will wohl", sagte Waldemar herankommend. „So kommen Sie, setzen Sie sich hier zu uns." Dori rückte etwas weiter, damit er noch Platz neben ihr finde. „Aber geben Sie mir erst die Hand, wir wollen gute Freunde sein, ich will auch für Sie Tante Dori heißen." Waldemar schaute sie mir seinen sanften, blauen Augen erstaunt an; er wurde ganz rot, als er ihre ausgestreckte Hand ergriff; dann setzte er sich neben sie. Der Junge ist nicht so gleichgültig gegen alle Freundlichkeit, wie ich dachte, da er sich immer so ferne hielt, sagte sich Dori. „Wissen Sie, Tante Dori", begann Oskar wieder, der ihr vorüber saß, „schon darum bin ich auch so froh, daß wir nun so gute Bekanntschaft mit Ihnen schließen können, daß wir dann fortan auf den Spaziergängen uns auch so 123 zu Ihnen halten dürfen, wie Otto thut, uns ist es heute erschrecklich gegangen, Waldemar und mir". „Wie so denn erschrecklich?" fragte Dori belustigt. „Die eine der Damen Maurizius, wissen Sie, die eine geht doch immer mit Papa, also die andere meine ich", erläuterte Oskar, „hatte mit mir zu sprechen begonnen und fragte mich, wie die rote Blume heiße, die sie gefunden hatte, ich mache gewiß Botanikstudien, meinte sie. Nun haben wir ja wohl die Unterrichtsstunden, aber ich bin wirklich kein hervorragender Botaniker, ich wußte nichts von der Blume. Da wollte sie gern den Namen und die Familie von der blauen wissen und nachher von den großen violetten, die an den sonnigen Hängen wachsen, aber ich wußte von allem nichts, das war mir schrecklich fatal, aber da war kein Ausweg, ich wußte eben nichts. Da sagte die Dame, ich möchte ihr einige Blumen suchen, die ich kenne und ihr dann diese Arten bringen und sie ihr benennen. Da lief ich, aber ich fand gewiß keine und kam auch nicht wieder in ihre Nähe, es genierte mich zu sehr. Dem Waldemar ist's aber nicht besser gegangen, nicht wahr? Erzähl es nur." Waldemar wollte nicht heraus mit seiner Erzählung. „Es ist ja gar nichts nettes, ich will es lieber nicht noch erzählen", sagte er. 124 „Doch, doch, Waldemar, ich habe auch gestanden, wie es mir gegangen ist", sagte Oskar. „Tante Dori hat ja gefragt. Nun mußt du auch bekennen, sonst muß man denken, du willst nur nicht, daß Tante Dori es wisse." „Nein, aber sie kann ja auch denken, so etwas brauchen wir nicht noch zu erzählen, wir sollen darüber nur schweigen", meinte Waldemar. „Haben Sie so gedacht, als ich erzählte?" fragte Oskar ein wenig betroffen. „Nein, wirklich nicht", erwiderte Dori, „Sie haben mir die Sache ja nicht als etwas Erfreuliches geschildert, sondern als etwas sehr Fatales, das Ihnen vielleicht noch ein wenig schwer auflag und Sie dachten, Sie würden es eher loswerden, wenn Sie es aussprechen würden." „Ja, gerade so, ganz Punktum so ist es mir gegangen", rief Oskar aus. „So will ich es auch gern aussprechen", sagte Waldemar: „Das Fräulein hat mich zuerst gefragt, ob ich sagen könne, wie viel Einwohner Bordighera habe; da mußte ich sagen, nein, ich wisse es nicht. Dann hat sie gefragt, wann wohl die Zeit der Olivenernte sei, das wußte ich wieder nicht, und dann fragte sie noch, ob Bordighera viel Südfrüchte ausführe, da so viele Orangen- und Zitronenbäume 125 zu sehen seien, das wußte ich auch nicht. Dann habe ich mich so geschämt! Die Dame hat gewiß gedacht, solches sollte man von der Geographiestunde her wissen." „Ja, aber das Ärgste ist, daß wir nun immer mit Schrecken an die Spaziergänge denken müssen", fiel Oskar ein; „denn der Papa hat es mir verwiesen, daß ich von der Seite der Dame weggelaufen sei. ,Wenn eine Dame so liebenswürdig ist, sich mit einem jungen Herrn abzugeben, so läuft der nicht von ihr weg<, hat der Papa so bestimmt gesagt, daß ich es nie wieder thun darf. Aber jeden Tag kann die Dame wieder ihre Fragen an uns richten und wir müssen stille halten und dürfen nicht mehr weglaufen, da spaßt Papa nicht, du weißt es, Waldemar. Er hat auch Augen, wie kein anderer Mensch. Sehen Sie, Tante Dori, da spricht er so eingehend mit einer Dame, daß man denkt, er hat für nichts anderes weder Auge noch Ohr, und derweilen sieht und hört er alles, was um ihn vorgeht. Er hat auch gewußt, daß Otto von Anfang bis zu Ende des Spazierganges Ihren Arm nicht losgelassen hatte." .Ja, ja, aber Papa hat jetzt erlanbt, daß ich immer bei Tante Dori sei, weil sie es erlaubt hat', warf Otto schnell ein. Spyri, Was aus ihr geworden ist. 9 126 „Ja, du hast es lang' gut, du kleiner verwöhnter Nest- has'", rief Oskar aus. „Aber du siehst, Waldemar, hatte ich nicht recht? Ich sagte zu Waldemar, ,du wirst sehen, wie nett die Tante Dori ist!' Denn wie wir nachhause kamen, da saß der kleine Kerl dort immer in einem Winkel und war langweilig und heulte nach Tante Dori und nach Cavandone und nach ganz unbekannten Dingen. Es war uns ganz recht, daß er mit der alten Smele nach Bordighera abreiste. Da wurden seine Töne auf einmal anders. Als die Dame Smele wieder zuhause war, da kamen Briefe von dem Bürschchen an, immer einer kurzweiliger als der andere, immer lustiger, wir lasen sie immer lieber. Da kam denn der Name der Tante Dori so viel vor darin, daß ich zu Waldemar sagte: ,Wir wollen doch einmal zählen, wie oft er vorkommt in einem Brief.' Da zählten wir und es war siebenzehn Mal in demselben Brief. Da habe ich gesagt: ,Paß auf, Waldemar, du wirst sehen, die Tante Dori ist gewiß nett, sonst würde das Heulpeterchen sich nicht so verändert haben und so nette Briefe schreiben und alle ganz dick voll von Tante Dori.' Aber nun wollen wir auch etwas von Ihnen haben, Waldemar und ich. Otto hat nun seinen Teil schon reichlich gehabt." ,Ja, nun wollen wir alle mit einander einen ganz 127 festen Freundschaftsbund schließen", sagte Dort mit Herzlichkeit. „Es freut mich ja, daß ihr auch meine Freunde sein wollt und darauf geben wir uns nun alle die Hände. Und kommen im Spätsommer die Ferien, dann kommt ihr beide nach Cavandone, das will ich mir vom Papa erbitten, und wir bringen alle zusammen eine schöne Zeit zu und steigen nach dem Monterosso hinauf und lagern uns unter den Kastanienbäumen." Nun legten alle ihre Hände in Tante Doris ausgestreckte Rechte und der Freundschastsbund ward unter ungeheurem Händeschütteln beschlossen. Im Musikzimmer hatte Fräulein Erna ihrem Versprechen gemäß die verschiedenen Stücke, die sie mit Doktor Strahl besprochen hatte, teils vorgesungen, teils vorgespielt, denn auch im Klavierspiel war Fräulein Erna sehr gewandt, wenn sie sich auch gerne von der Schwester begleiten ließ. Der Bruder Richard hatte derweilen fortwährend aus dem Fenster geschaut, so als suchte er draußen im Garten etwas zu entdecken. Als jetzt in der Musik eine Pause eintrat, kehrte er sich zu seiner Schwester um: „Du hast so lange nicht mehr dein Herbstlied gesungen", sagte er, „es möchte dem Herrn Doktor wohl gefallen. Du solltest wirklich das Lied gleich einmal singen, es paßt auch für deine Stimme vortrefflich." 9 * „Als ob ich das Lied allein singen könnte", entgegnete Erna, „die zweite Stimme ist ja gar nicht vorhanden. Fräulein Maurizius hält wohl von der Musik nicht sehr viel, sie scheint sich bei der Jugend am wohlsten zu befinden." „ Es möchte vielleicht auch sein, daß die Jugend bei ihr sich so wohl befände, daß sie ihrer nicht mehr los wird, da muß ich doch zusehen", sagte Doktor Strahl, „erlauben Sie, Herr Maurizius." Dieser hatte sich schnell aufgemacht, um die zweite Stimme herbeizurufen. Doktor Strahl war ihm aber in der höflichsten Weise zuvorgekommen und stieg nun die Stufen zum Garten hinunter. Es war still ringsum. Die Gartenwege führten nach allen Seiten hin zu verschiedenen Baumgruppen und Lorbeerbüschen, unter denen da und dort kleine Ruhebänke angebracht waren, wie der Doktor gesehen hatte. Er ging dahin und dorthin, es war alles leer. „Endlich", sagte er, zwischen den tief herabhängenden Zweigen des dunkeln Nadelbaumes durch in die lauschige Ecke hineinblickend, „da seid ihr ja, und wo habt ihr denn euere Tante Dori versteckt?" Wirklich war sie kaum zu unterscheiden in dem Knäuel, den tiefe Dunkelheit umgab, denn die dichten Äste ließen kaum einen Mondstrahl durchschimmern. Auf der 129 einen Seite lehnte sich Otto an sie, auf der anderen war Waldemar nun auch ganz zutraulich nahe an sie herangerückt, vor ihr stand Oskar, der im Eifer seiner Reden seinen Sitz verlassen hatte, um Doris Aufmerksamkeit ganz zu besitzen. „O Papa", sagte er, sich umwendend, „du willst doch nicht Tante Dori fortholen?" „Doch, das ist es gerade, was ich im Sinne habe'* erwiderte der Bater. „Wer weiß, ob sie euch nicht schon lange gern entsprungen wäre, wenn ihr sie nicht so fest eingeschlossen hättet!" „O nein, Herr Doktor, gewiß nicht", versicherte Dori, „wir waren hier so vergnügt zusammen, daß nicht eines von uns fortstrebte." „O wie schade, Papa, wie schade!" rief Oskar aus. „Warum muß denn Tante Dori fort von uns?" „Tante Dori muß überhaupt nicht, weder das eine noch das andere", erwiderte Doktor Strahl. „Aber es giebt auch andere Menschen, die Tante Dori zu sich wünschen, ihr seid nicht die einzigen. Im Gesellschaftszimmer soll ein Lied gesungen werden, das jedermann Freude machen würde, auch mir; dazu ist aber die Stimme der Tante Dori notwendig, es kann sonst nicht gesungen wer- 130 den. Wollen Sie uns das Vergnügen machen, Fräulein Dori, und herüberkommen?" „Wenn Sie den Gesang zu hören wünschen, Herr Doktor, so will ich gewiß kommen", entgegnete Dori, „Sie kennen wohl das Lied schon?" Dori hatte sich erhoben und war an Doktor Strahls Seile getreten. Die drei Jungen folgten, Otto war aber augenblicklich wieder an Doris Arm und hielt ihn fest umklammert. „Ich kenne das Lied nicht", sagte der Doktor, „will es aber sehr gern hören. Ich habe Sie überhaupt noch gar nie singen gehört. Otto hat uns wohl oft erzählt, wie schön Sie mit Ihren Kindern im Kastanienwald von Ca- vandone sangen. Wir waren alle begierig, Sie einmal singen zu hören." „O Herr Doktor, erwarten Sie nur ja von meiner Seite keinen schönen Gesang, sonst muß ich mich fürchten, vor Ihnen zu singen", sagte Dori wirklich erschrocken. „Sie kennen gewiß lauter gut ausgebildete Stimmen; eine solche habe ich ja gar nicht. Und dieses Herbstlied, — ich werde entschieden meinen Teil ganz schlecht singen." „Warum haben Sie denn diesen Entschluß gefaßt?" fragte der Doktor lächelnd. 131 „O das kommt von selbst, ohne allen Entschluß", entgegnen Dort. „Ich kann gar nicht begreifen, wie man so etwas für zwei Stimmen komponieren kann, was doch gewiß nur ein einziger Mensch auf einmal singen kann und dann —", Dori stockte. „Und dann?" fragte der Doktor. „O was ich sagen wollte, gilt vielleicht nicht für andere", fuhr Dori fort. „Ich muß immer vorweg erleben, was ich singe, und so giebt es Stellen, die ich fast nicht singen kann. Gerade in diesem Herbstlied —", Dori hielt wieder ein. Gerade in dem Herbstlied, das sie singen sollte, lag etwas, das Dori tief bewegte, sie hätte es lieber nicht gesungen. Die beiden waren nun beim Hause angelangt und traten ein. Im Gesellschaftszimmer wurden Doktor Strahl und die aufgefundene Altstimme mit Beifall begrüßt. Fräulein Wera hatte sich schon aus Klavier gesetzt, Erna stellte sich zu ihrer rechten, Dori zur linken, sie begannen zu singen: „Der Sommer ging, ES fällt daS rote Blatt; Der Rosen letzte neigt sich welk und matt — Leb wohl! Leb wohl!" „Da droben schweigt Der Herdcglocken Klang 132 Spätsonne flimmert blaß am Felsenhang — Leb wohl! Leb wohl!" „Und du — auch du!" Wie wird eS morgen sein? Hin alle Rosen, hin der Sonnenschein — Leb wohl! Leb wohl!" „Ein letzter Gruh — Nicht Thränen noch Geschrei: Still bricht ein Herz und alles ist vorbei — Leb wohl! Leb wohl!" Es war still, als der Gesang zu Ende war. Keine lauten Beifallsrufe ertönten, wie sonst geschah, wenn ein Musikstück zu Ende gekommen war. Es hatte wie ein wirkliches Abschiedsweh durch das Lied gezittert. Jetzt begann aber doch Herr Castlewall mit Enthusiasmus Beifall zu klatschen: „LlaAuilioont! LluAniLoent!" rief er aus. Auch die anderen stimmten in die Anerkennung ein. Fräulein Erna wandte sich nun an die englischen Damen, sie um einige Klavierstücke bittend. Doktor Strahl erhob sich, dankte den Damen noch besonders für den Genuß, den sie der Gesellschaft durch ihren Gesang bereitet und verließ das Zimmer. Seine beiden älteren Söhne waren draußen im Garten geblieben, er forderte sie noch zu einem Gang nach dem Meer hinunter auf; es war eine lichte Mond- 133 nacht. Der Jüngste hatte sich längst wieder in den Saal hinein und an Doris Seite geschlichen. „Setzen Sie sich, verehrtest? Cousine", sagte Herr Maurizius, ihr zuvorkommend einen Sessel bietend, indem er auf die andere Seite hin lebhaft um Fortsetzung der Musik bat. „Wir wollen gehen, Tante Dori, komm wir wollen hinaus, willst du nicht auch lieber?" flüsterte ihr Otto zu. „Doch", sagte sie leise, dankte Herrn Maurizius für seine Fürsorge, empfahl sich und ging mit Otto, doch nicht hinaus, sie ging nach ihrem Zimmer. Früher als sonst verließen auch die anderen Gäste heute den Saal; es wollte kein rechter Zug mehr in die Unterhaltung kommen. Richard trat jedoch noch bei seinen Schwestern ein. Er ließ sich gleich auf einen Stuhl nieder, ein Zeichen, daß er sich noch in ein Gespräch einzulassen gedenke. „Erna", begann er, „es will mir so vorkommen, als seien deine englischen Shmpathieen einigermaßen verrauscht und so, als wären deine musikalischen Unternehmungen der letzten Tage mehr für den einen als für die anderen bestimmt gewesen." 134 „Wenn der eine mehr als alle anderen davon versteht, so habe ich wohl recht gehabt", entgegnete Erna. „Unbedingt, vollkommen meine Ansicht", stimmte der Bruder bei. „Ich denke, es ist überhaupt der Mühe wert", fuhr Erna fort, „etwas zu thun für einen Mann, der mit der umfassenden Bildung, wie Doktor Strahl sie hat, eine so ausnehmende Höflichkeit und Liebenswürdigkeit verbindet, wie er sie zeigt. Auf welches Gebiet man ihn auch zu bringen sucht, überall ist er daheim. Mit Zuvorkommenheit geht er gleich auf den Gegenstand ein und behandelt ihn in so anregender Weise, daß man immer weiter kommt, immer tiefer in die Sache hinein." „Das ist nun freilich mit dir auch etwas Besonderes, Erna", fiel ihre Schwester hier ein, „Doktor Strahl hat für dich eine Aufmerksamkeit wie für niemand sonst in der Gesellschaft." „Damit stimme ich nicht überein", sagte der Bruder, „im Gegenteil, ich finde, Doktor Strahl hat für jede Dame der Gesellschaft durchaus dieselbe Höflichkeit und Aufmerksamkeit. Es kommt ihm nicht auf die Persönlichkeit an, diese Höflichkeit ist einmal in seinem Wesen, er kann gar nicht anders." 135 „Mit wem unterhält sich denn Doktor Strahl stundenlang auf einem Spaziergang, Richard?" fragte Wera. „Wen fordert er zum Gesang auf und lauscht mit der tiefsten Befriedigung bis zum letzten Ton, verläßt dann aber das Zimmer, sobald jemand anders das Vortragen der Musik übernimmt?" „Da könnte man freilich immer noch antworten: .Doktor Strahl liebt den Gesang, vorzüglich den einer schönen Stimme, nicht aber diese donnernden Klaviervorträge'", meinte der Bruder, „und unbegreiflich wäre das nicht. Etwas kriegstrommelartig tönt alle Musik, welche diese energischen Damen zusammen verarbeiten. Aber mich könnte es nur freuen, wenn deine Beobachtungen richtig wären, ich meine, wenn der Höflichkeit dieses Herrn ein tieferer und wärmerer Sinn zugrunde läge. Was thäten wir dann, Erna?" „Was thäten wir dann?" wiederholte die Schwester etwas spöttisch, „du bleibst doch originell bis du grau wirst, Richard." „Ja, das glaub ich auch", sagte der Bruder beistimmend. „Aber du weißt ja doch, Ernachen, daß ich ebenso viel Teilnahme für dein Schicksal habe, wie du für das meine, man ist doch nicht umsonst Geschwister. Wenn nun wirklich der Augenblick der Entscheidung nahte, was dann?" „Ja, was dann? das ist schnell gefragt", gab Erna zurück. „Leicht wäre ein solcher Entschluß nicht. Ja, wenn ein Mann, wie Doktor Strahl ist, allein stände, ich denke, dann wäre ein Entschluß nicht schwer. Aber eine Last auf sich nehmen, wie diese drei anspruchsvollen Jungen sind — ich danke! Anspruchsvoll ist wenigstens der älteste im höchsten Maße. Thut er nicht, als wäre es eine Gnade, wenn er sich nur herbeiläßt, das Entgegenkommen einer Dame anzunehmen und auf Freundlichkeiten antwortet er mit Davonlaufen. Der jüngste ist das verwöhnteste Bürschchen, das mir noch vorgekommen ist, der wollte wohl den ganzen Tag gehätschelt sein. Daran ist freilich seine Pflegerin schuld. Der kleine Tyrann wäre am Ende fähig, bei seinem Vater durchzusetzen, daß diese auch noch mit in die Familie aufgenommen werden müßte, damit er seine Pflege beibehält, das wäre noch lockender, dieses arrogante Mädchen neben sich zu haben/ „Erna, dagegen gäbe es ein radikales Mittel; ich wende es sogleich an uud du bist beruhigt", sagte Richard rasch. 137 „Solltest du diese unglückselige Idee immer noch im Kopfe haben?" fuhr Erna erregt heraus. „Ich hatte wirklich geglaubt, meine Worte hätten dich überzeugt und zur Vernunft gebracht. Und nun auf einmal taucht deine Schrulle wieder auf, denn etwas anderes kann es doch nicht sein als die alte Schrulle, wenn ich wenigstens deine Worte recht deute. Glaube mir, Richard, ich meine es gut mit dir, laß diese Sache fallen. Sprich keine voreiligen Worte aus, die dich binden und die du, einmal in deine gewohnten Verhältnisse zurückgekehrt, zu bitter bereuen müßtest. Es giebt ja Mittel und Wege schriftlich zu verkehren. Komm erst nachhause, besinne dich auf deine Umgebung, mach erst einige Monate deine gewohnten Gesellschaften und Vergnügungen mit, dann sollst du sehen, ob du mir nicht dankst, daß ich dich von einem übereilten Schritt zurückgehalten habe." ,Ja, hellsehende Erna, du hast meine Worte richtig gedeutet, nur handelt es sich nicht nur um eine Schrulle, das kann ich dir sagen", erwiderte der Bruder; „aber um des Familienfriedens willen will ich nicht voreilig sprechen. Ich will für einmal den Augenblick abwarten, da ich den drohenden Schlag des kleinen Tyrannen von dir abzuwenden hätte. Spricht der Doktor ein entscheidendes Wort 138 aus, so thue ich sofort dasselbe, dann wird dir meine unglückselige Idee noch als eine ganz glückselige erscheinen und der Familienfrieden ist gerettet. Daraufhin können wir wohl alle drei ruhig schlafen." Richard verließ das Zimmer der Schwestern. Neuntes Kapitel. Schon auf dem Gange nach dem Palmengrund war von den Damen Maurizius für einen der nächsten schönen Tage ein Ausflug durch die Olivenwälder nach dem hoch vom Berggral herunter leuchtenden Städtchen La Colla vorgeschlagen worden. Am nächsten Tag wehte ein starker Südwind und die jagenden Wolken ließen auf nahende Regengüsse schließen. Von dem längeren Ausflug konnte heute keine Rede sein. Aber Herr Maurizius hatte schon eine Entschädigung dafür ausgesonncn. „Wenn wir heute den Herrn Doktor einmal zu der Felsenhöhe hinaufführen würden", schlug er schnell vor, als man sich vom Frühstückstisch erhob, und jeder sich anschickte, die drückend warmen Nachmittagsstunden nach seinem Bedürfnis zuzubringen. .Hernach können wir zum Strand hinabsteigen und den Herrn Doktor zu der unnahbaren Feste seines Sohnes führen, zu den Cyklopenfelsen hinter 140 _ der alten Kapelle, wo er sich hin flüchtet mit der Tante, daß niemand sie ihm rauben möge. Nicht, Fräulein Cousine, wäre das nicht ein Gang für heute? Die Brandung an dem Felsen muß ja prächtig sein bei diesem Wind." „Wenn der Herr Doktor wünscht, unsern Felsen zu sehen, so bin ich gern dabei", erwiderte Dori. Der Doktor verbeugte sich zustimmend. „Wenn Sie uns gestatten, Ihre Meeresburg kennen zu lernen und die beiden Damen Lust zu dem Gange haben, so nehme ich mit Vergnügen den Vorschlag an", sagte er. „Es ist für mich von besonderem Interesse, die Stelle kennen zu lernen, die in den Briefen meines Jungen eine so große Rolle spielte." Fräulein Erna hatte längst ungeduldig ihre Handschuhe zwischen den Fingern in die Länge gezogen, so als wollte sie sagen: „Wie viel Worte um gar nichts!" Etwas kurz bemerkte sie jetzt: „Ob es der Mühe wert ist, dahinzugehen, wissen wir freilich nicht; aber in guter Gesellschaft hat ja jeder Gang seine große Annehmlichkeit. Wir finden uns um vier Uhr in der Halle ein." Nun trennte man sich. Doktor Strahl sagte, er werde Briefe schreiben. „Ihr könnt euch unterdessen hier im Garten verweilen, 141 Jungens, oder wo ihr wollt", setzte er hinzu, „und du, Otto, lässest auch eine Weile deine Tante Dort in Ruhe." Dann ging er nach seinem Zimmer. Dori war, mit Otto an ihrem Arm, in der Halle stehen geblieben und hatte dem Doktor nachgeblickt. Wie oft hatte sie ihm nachgeschaut, wenn er so ihr Haus verließ, damals im fernen Schuls. Dann war er für immer gegangen! Und nun war er wieder da, ganz derselbe, und doch lag eine so lange Zeit dazwischen! Sie war doch so anders geworden, so viel älter, dachte sie. „Tante Dori, was haben Sie jetzt im Sinne zu thun?" fragte Oskar, ihre Gedanken unterbrechend. „Was ich zu thun im Sinne habe? Ich weiß es selbst nicht so recht", entgegnete sie. „O wie herrlich!" rief Oskar aus. „Nun kommen Sie mit uns nach den Steinsitzen dort unter den Bäumen mit den langen Ästen, da ist es so schattig und kühl und wir können so schön ungestört uns erzählen, was wir wollen." Dori willigte sogleich ein. In der freien Luft zu sein war für Otto immer das Beste, zum Gehen war es zu schwül eben jetzt, in der schattigen Gartenlaube mußte wirklich für einmal der beste Zufluchtsort sein. Spyri, Was aus ihr geworden ist. 10 142 „Ich hole nur schnell mein Strickzeug herunter und finde euch dort", sagte Dort. Aber Oskar wehrte sich dagegen. „Es ist viel netter, wenn Sie nichts thun, dann sind Sie recht mit uns zusammen, sonst schauen Sie immer wieder auf das Zeug; kommen Sie lieber gleich mit uns." Er hatte sich schon an ihren andern Arm gehängt; Dort wurde fortgezogen, Waldemar folgte den Vorangehenden auf den Fersen nach. Die viere waren anzusehen wie eine feste Masse, die sich durch die Gartenwege hin bewegte. „Warum lachen Sie auf einmal, Oskar?" fragte Dori. „Weil ich dort oben den Papa am offenen Fenster gesehen habe; er hat sich ganz hinausgebeugt, so, als könne er nicht recht erkennen, was er sah. Er hat gewiß geglaubt, wir seien nur eine einzige, dicke Person, die spazieren geht, weil wir so nahe zusammen gehen." In dem baumumschlossenen Winkel hatte jeder seinen alten Platz eingenommen, aber Oskar war nicht zufrieden. „Komm, hilf mir, Waldemar', sagte er, seinen Steinsitz mit Anstrengung hebend, „ich will auch nahe bei euch sein, es läßt sich nicht gemütlich plaudern, wenn man so hinüber schreien muß!" Der Sitz wurde ganz nahe vor Dori hingerückt; Oskar setzte sich darauf. „Nun sind wir wie 143 in einem Vogelnest", sagte er lachend, „so kann man gut plaudern. Wenn Sie doch einmal zu uns auf Besuch kommen würden, das wäre ein Hauptspaß! Sehen Sie, Tante Dort, bei uns geht es meistens traurig und langweilig zu. Papa hat ja natürlich so viel zu arbeiten, daß er nicht oft da ist, wenn wir heim kommen von der Schule. Dann ist wohl Fräulein Smele da, aber die ist nun so furchtbar alt und gebrechlich —." „Was fällt Ihnen denn ein, Oskar", unterbrach ihn Dort, „Fräulein Smele ist weder gebrechlich noch schrecklich alt. Wenn sie auch schon dreißig Jahr alt war und das war sie vielleicht noch nicht einmal, und in Ihr Haus eintrat, sogleich nachdem Sie auf die Welt gekommen waren, so kann sie ja nicht mehr als sechsundvierzig Jahr alt sein." „Das haben Sie aber einmal schnell ausgerechnet", sagte Oskar. „Richtig, ich bin sechzehn Jahre alt, so muß es wohl sein. Nun ja, aber dann hat Fräulein Smele immer Migräne. Und wie wir aus dem Institut heimkommen durften, da sagte Papa zu uns: .Fräulein Smele dürft ihr nicht kränken, sie ist eine alte, treue Freundin des Hauses? Also da mußten wir dann schon immer scharf aufpassen, daß wir sie nicht kränkten, nicht Waldemar? 10* 144 Denn es kränkte sie fast alles, was wir thaten und dann bekam sie Migräne. Und wenn wir einmal laut lachten, dann kam sie gleich und sah leidend aus und sagte: ,Wie könnt ihr nur so herzlos sein! Denkt ihr denn nicht daran, was euer Vater durchgemacht hat? Wie muß ihm sein, wenn er euch so lachen hört!' Dann erschraken wir freilich und lachten eine Zeit lang nicht mehr. Aber wirklich, wir hatten vergessen, was der Pater durchgemacht hatte, und nachher lachten wir wieder und dann ging es von neuem los, und so geht es bis auf den heutigen Tag, nicht, Waldemar? Wir wollen ja dem Papa nicht wehthun und die leidende, alte Smele nicht kränken, aber wir müssen doch manchmal lachen und ein wenig laut thun, und dann kommt gleich Jammer und Migräne und alles Unheil." „In früheren Jahren, als Sie noch Ihre Mutter hatten, da war es doch ganz anders", sagte Dori. „Sie haben mir noch nie von Ihrer Mutter erzählt und können sich doch wohl ihrer erinnern aus der Zeit, da sie noch gesund war, nicht wahr, Sie und Waldemar?" „Ja, so an einzelne Erlebnisse aus jener Zeit, aber an ein rechtes Zusammenleben mit der Mutter kann ich mich nicht erinnern", entgegnete Oskar. „Das ist mir noch gut 145 im Gedächtnis, wie wir an einem kleinen Tisch saßen und spielten, Waldemar und ich, und nebenan im großen Zimmer sang Mama so schön. Dann wollten wir durchaus hineingehn, aber da war eine Jette, ich denke, das war unsere Hüterin, die holte uns immer wieder zurück, wenn wir an der Thür waren und sagte, wir dürften nicht Mama stören und brachte uns wieder an den Tisch zum Spielen; und nachher fingen wir wieder von vorn an und liefen wieder an die Thür, weißt du das noch, Waldemar?" „Ganz gut weiß ich's noch", entgegnete dieser, „und wie Jette aussah, weiß ich auch noch, ich habe sie gefürchtet. Wenn sie uns zurückholte, sagte sie zu dir: ,Komm, Os- kärchen, sei 'mal gut!' Und mich riß sie nur so am Arm zurück. O das weiß ich noch so gut." „Davon weiß ich nun nichts mehr", nahm Oskar wieder auf, „aber eine andere Erinnerung ist mir noch ganz lebendig und dir gewiß auch, Waldemar, denn da war ein solcher Lärm dabei. Es war am Abend bei Licht, da ging die Thür auf am großen Zimmer; drinnen war alles hell erleuchtet und Fräulein Smele ging mit einer Lampe rings um die Mama herum. Mama stand mitten im Zimmer in einem weißen Kleid und hatte rote Rosen im Haar, das war so schön. Ich schoß hinüber und Waldemar mir 146 nach. Dann wollte Mama hinausgehen, ich glaube, der Wagen wartete, aber ich hatte mit beiden Händen ihr Kleid gepackt und wollte sie zurückhalten, und Waldemar erfaßte das Kleid auf der anderen Seite und wir riefen beide: , Bleib da, Mama!' Und Mama rief noch lauter: , Macht sie los! Macht sie los!' Und Fräulein Smele schrie und Jette schrie, und ich weiß noch so gut, wie fest ich das Kleid in meine Hand klemmte, daß sie mit aller Gewalt mir die Faust aufmachen mußten. Ich wollte nur Mama bei uns festhalten; ich verstand nicht, daß ich das Kleid zerknitterte. Nachher habe ich dann von Fräulein Smele oft genug gehört, was ich gethan hatte, um es zu begreifen. Wir kamen dann sehr früh ins Institut, weil Papa fand, wir seien zu unruhig, Mama müßte mehr Ruhe haben. Sie war immer sehr angegriffen und konnte Unruhe von Kindern nicht ertragen. Darum haben wir sie wohl so wenig gesehen, noch als wir daheim waren. Mama muß sehr schön gesungen haben das sagt jedermann, der sie singen gehört hat. Papa sagte gestern, die Stimme von Fräulein Maurizius erinnere ihn an die Stimme der Mutter, besonders wenn sie dieselben Lieder singe, die Mama sang. Müssen Sie nun nicht selbst sagen. Tante Dori, daß in unserem Hause nie ein recht gemütliches Leben war und auch jetzt nicht ist. Da fehlt ein Mittelpunkt. Das merken wir am klarsten, wenn wir bei unserem Freund Thiele gewesen sind. Dort empfängt uns immer die Mutter und spricht mit uns und macht uns alles gemütlich. Und bei allem, das uns fehlt, oder das wir nicht einzurichten wissen, bei Spielen und Aufführungen und bei Verlegenheiten aller Art, sagt Max Thiele nur: ,Das muß man der Mutter sagen, sie weiß Rat und sie hilft uns wohl? Und wenn wir ganz erfüllt von dem netten Leben bei Thieles heimkommen, dürfen wir nicht einmal recht davon sprechen, denn das ist gerade, was Fräulein Smele am tiefsten kränkt, wenn wir sagen: da ist es ganz anders als bei uns. Und vor Papa sagen wir auch nichts mehr, er wird ganz still und traurig und bedauert uns, und sagt dann immer so teilnehmend: , Ihr armen Jungen, ich kann euch ja nicht ersetzen, was euch abgeht!" „Ihr habt aber doch wirklich einen Ersatz für alles andere in eurem Vater", warf Dori lebhaft ein. „Ihr fühlt es doch, welch einen Vater ihr habt und könnt wohl bei eueren Freunden auch bemerken, daß wenige von ihnen solche Väter haben, vielleicht nicht einer!" »Ja, das jist wohl wahr, das haben wir auch schon oft zusammen gesagt, nicht, Waldemar?" fuhr Oskar fort. 148 „Aber Sie können nicht begreifen, wie viele Fälle es giebt, wo man eine Mutter nötig hat, so wie Max Thiele eine hat, der man alles sagen kann und erbitten und fragen und mit ihr beraten und ihre Hilfe holen. Papa denkt selbst so und muß auch darunter leiden. Er seufzt auch manchmal auf, wenn es so öde ist bei uns und keiner weiß, zu wem er soll mit seinen Anliegen, dann sagt er: .Unserem Hauskörper fehlt das Herz? Das ist ja doch dasselbe, was ich auch meine.' „Ich würde so gern noch länger hier bleiben und euch alles erzählen hören, aber die Zeit ist um, wir müssen uns zum Spaziergang stellen", sagte Dori, „Sie sehen so blaß aus, Waldemar, ist Ihnen nicht gut?" Waldemar erwiderte, er habe immer ein wenig Kopfweh, und Dori dachte, ein Gang im Freien möchte ihm wohlthun. Die Gesellschaft fand sich bald zusammen und setzte sich in Bewegung. Es hatte sich wie von selbst so ergeben, daß die beiden Damen Maurizius, Doktor Strahl an ihrer Seite, vorangingen. .Die Erklärung des Ursprungs jener altfranzösischen Ballade, die Sie mir versprochen, schenke ich Ihnen nicht, Herr Doktor", sagte Fräulein Erna im Fort- 149 gehen, „ich habe mich den ganzen Morgen lang darauf gefreut." Doktor Strahl warf einen raschen Blick zurück, dann ging er vorwärts mit den Damen. .Ihre jungen Herren sind gut aufgehoben", bemerkte Fräulein Erna, die dem Blick gefolgt war. „Mein Bruder und Fräulein Maurizius umgeben sie, wie Sie sehen. Die beiden sind selbst noch so jugendlich, daß es ja eine Freude für sie sein kann, sich mit den jungen Leuten abzugeben." Der Doktor lenkte das Gespräch auf die Ballade über und in belebter Unterhaltung wurde der Weg die Höhe hinan fortgesetzt. Weniger glatt ging es bei den Nachfolgenden ab. Dori konnte die in allen Farben schimmernden Anemonen am Weg und an den Halden nie genug bewundern und stand immer wieder still. Dann lief Herr Maurizius hin, ihr die schönsten zu pflücken und Oskar wollte nicht weniger dienstfertig sein, lief auch und wer zuerst zurück kam, nahm den Platz neben Dori ein und behauptete ihn fest bis zu einer neuen Blumenjagd. So entstand ein völliges Wettrennen und ein lautes, endloses Gelächter bei den Kämpfern, denn immer war einer wieder > der Sieger und der andere hatte das Nachsehen. Jetzt 150 kam die Besteigung der freien Felshöhe. Dori schaute sich um und mit einemmale fing auch sie zu laufen an, aber rückwärts, unaufhaltsam eine ganze Strecke weit. Ihre Begleiter standen verblüfft da und schauten ihr nach. Otto, der ihren Arm nie verlassen, war mitgelaufen. Sie kamen nicht zurück. Oben auf dem Felsen standen die drei Vorangegangenen still; Herr Maurizius und Oskar stiegen vollends hinauf und berichteten Doris Flucht. „Sollte Fräulein Maurizius um Ottos willen zurückgekehrt sein, war etwas mit ihm nicht in Ordnung, Oskar, hast du nichts bemerkt?" fragte der Vater. „O der lief ja mit und machte Sprünge wie ein Hase", entgegnete Oskar, „aber ich glaube, Waldemar war zurückgeblieben, ich habe ihn nicht mehr gesehen." Doktor Strahl bat, die Herrschaften möchten sich doch nicht stören lassen und den projektierten Spaziergang zu Ende machen, er wollte gern auf dem kürzesten Weg zurückkehren. Fräulein Erna erklärte, sie werden alle mit ihm denselben Weg zurückmachen, es könnte für niemand eine Freude sein, weiterzugehen, da doch alle nur daran denken könnten, es möchte ihm etwas Unangenehmes bevorstehen. Ihr Bruder fügte bei, hier vom Felsen herunter könne der Herr Doktor auch die alte Kapelle und die meerumschäumten 151 Felsstücke dahinter am besten sehen, was ja das Ziel des Spaziergangs gewesen wäre. Doktor Strahl warf einen flüchtigen Blick auf die Kapelle und das Meer hinab. Dann kehrte die Gesellschaft um. In die Villa eingetreten, fragte der Doktor gleich, ob Fräulein Maurizius zurückgekehrt sei. Er hörte, sie sei oben im Zimmer des jungen Herrn. Er eilte hinauf: Dort saß an Waldemars Bett und hielt seine Hand; ein großes, weißes Tuch bedeckte seine Stirn. „O ich bin froh, daß Sie da sind, Herr Doktor", sagte Dort sobald er eintrat, „ich glaube, man sollte den Arzt kommen lassen, Waldemar hat starkes Fieber." Der Doktor trat heran. Er dankte Dori für ihre erste Pflege und wünschte von ihr zu hören, was vorgefallen sei. Dori berichtete, sie hätte schon den ganzen Tag bemerkt, daß Waldemar blaß und angegriffen aussah und als sie nun auf dem Spaziergang gewahrte, daß er nicht mehr folgte, Hätte sie gleich gedacht, ihm fehle etwas, und so war es auch. Sie hatte ihn halb ohnmächtig am Wege sitzend gefunden. Sie brachte ihn nur mit Mühe wieder zur Villa zurück. Der Doktor war ganz einverstanden damit, daß nach dem Arzt geschickt werde und erteilte sofort den Befehl. 152 „Noch eins", fügte er bei, das forteilende Mädchen zurückrufend, .Sie kennen wohl auch eine Krankenpflegerin, die Sie herbringen könnten? Oder sollte hier im Hause jemand sein, der zur Pflege hier im Zimmer sich niederlassen könnte? Sie verstehen wohl, daß sie ganz zum Dienste des Kranken dableiben müßte." „Aber Herr Doktor, das haben wir gar nicht nötig, die Pflege verstehe ich wirklich zu besorgen", wandte Dort ein. .Sie werden ja nicht denken, daß ich das annehmen könnte, Fräulein Dort", entgegnete Doktor Strahl, „ich bitte Sie darum, selbst Ihre Befehle für eine Wärterin zu geben, sowie Sie finden, daß es sein soll." Dori schaute das harrende Mädchen an, dann den Doktor, der erwartend auf sie blickte, sie konnte ja nicht mit ihm kämpfen vor der Wartenden. „Ich habe noch einen Gedanken, Herr Doktor", sagte sie etwas zögernd. „Sehr wohl", fiel er zuvorkommend ein. „Sie holen den Arzt, die weiteren Befehle wird Ihnen nachher das Fräulein erteilen." Das Mädchen ging. .Ich dachte, Herr Doktor", begann Dori wieder, „wenn eine längere Krankheit in Aussicht stände und der Arzt es befehlen würde, so wäre ja immer noch Zeit genug, sich nach einer Wärterin umzusehen. Aber für einmal möchte ich gern bei Waldemar bleiben, wir sind so gute Freunde geworden; vielleicht ist es ihm auch recht, wenn ich bei ihm bleibe." „Ja, gewiß Papa, tausend, tausendmal lieber ist mir Tante Dort, als jede andere Pflegerin", bezeugte Waldemar. „Daran habe ich keinen Augenblick gezweifelt", sagte Doktor Strahl lächelnd, „ich werde es aber nicht annehmen, daß Fräulein Maurizius als völlige Krankenwärterin an deinem Bette bleibe." „Bis der Arzt kommt und entscheidet, erlauben Sie mir's doch, Herr Doktor", sagte Dort bittend. Waldemar hatte ihre Hand immer fester gehalten. „Ich habe Ihnen nichts zu erlauben, Fräulein Dort; aber Sie bringen Opfer für meine Jungen, die ich nicht annehmen kann." „Nein, Herr Doktor, es ist durchaus kein Opfer, das ich bringe", bezeugte Dori, fest und offen zu Doktor Strahl aufblickend. „Ich bleibe hier bei Waldemar viel lieber, als daß ich ihn verlasse; ich müßte doch immer mit Sorge 154 daran denken, wie es ihm nun wohl gehe, wo ich auch wäre." Der Doktor erwiderte, er würde ja gern sie gewähren lassen und möchte auch seinem Waldemar eine so liebe Pflegerin wohl gönnen, wenn er nur nicht das drückende Gefühl dabei hätte, daß ihre Güte mißbraucht würde, daß sie ja schon viel zu sehr mißbraucht worden sei, ohne daß er es vorhergesehen hatte, durch alles, was sie an aufopfernder Pflege an Otto gethan, was ihm hier mit jedem Tag klarer geworden sei. „Aber Herr Doktor", sagte Dori lebhaft, „wollen Sie mir denn die Freude nehmen, das wenige, das mir gegeben ist, zu brauchen, wenn ich jemand wohlthun kann? Sie wissen ja wohl, wie viele Vorzüge andere Mädchen und Frauen vor mir haben; wollen Sie mir denn nicht die Freude gönnen, daß ich denen, die ich lieb habe, doch auch etwas sein kann?" Doktor Strahl wollte antworten, da klopfte es an die Thür, der Arzt trat ein, er mußte schon in der Nähe gewesen sein. Er untersuchte den Kranken. „Ein Fieberchen, ein Fieberchen, nichts weiter", sagte er. „Sehr gut diese kalten Umschläge, nur fortgefahren und zum Schlucken werde ich noch etwas verordnen." Doktor Strahl fragte, ob er nicht finde, es sollte eine Wärterin für die Nacht genommen werden, vielleicht für einige Tage. „O bewahre", erwiderte der Arzt, „die Umschläge erneuert der junge Herr sich von Zeit zu Zeit selbst, wenn er nicht schlafen kann; schläft er, desto besser. Ebenso mit der Medizin. Der böse Sirocco hat den Jungen etwas umgeworfen, geschieht den Fremden häufig, die nicht an diese Luft gewohnt sind. Die Herrschaften sind wohl erst angekommen? Wird vorübergehen. Morgen noch stille liegen, übermorgen wird's gut sein! Werde nachsehen. Empfehle mich!' Der Bericht war eine große Erleichterung für Doktor Strahl wie für Dori. Als der Doktor zur Abpndtafel erschien, wurde von den Geschwistern Maurizius mit der lebhaftesten Teilnahme nach dem Patienten gefragt. Fräulein Erna blieb trotz aller ablehnenden Dankesworte von- seiten des Vaters dabei, dem jungen Kranken ihre Reiseessenz schicken zu wollen, die Tropfen würden sofort Erleichterung bringen. Auch ein wohlriechendes Salz, ein kühlendes Mittel, das sie immer mitfühlte, würde sie beilegen. Der Kranke hätte nur einigemale kräftig daran zu riechen, so würde er sofort eine angenehme Kühlung im 156 Kopfe und Linderung des Schmerzes empfinden. Fräulein Wera hatte auch einen Eisbeutel mitgebracht, den wollte sie ebenfalls ins Krankenzimmer schicken, wenn Eis aufgelegt werden sollte. Doktor Strahl hatte auf alle Seiten zu danken und nur immer zu versichern, die Sache sei nicht wichtig, der Arzt habe ihn durchaus beruhigt. Die Mitteilung befriedigte allgemein, um so mehr, als schon auf dem Spaziergang die Partie durch die Olivenwälder nach dem Bergdorfe hinauf für morgen festgesetzt worden war. Der Himmel war gegen Abend Heller geworden, man konnte einen schönen Morgen erwarten. Fräulein Erna schlug vor, noch die Höhe der Gartenterrasse zu besteigen, wo man einen weiten Horizont hatte, um recht beurteilen zu können, wie der Himmel aussehe. Der Gang wurde ausgeführt. Weithin war der Himmel rein gefegt von dem tosenden Wind, der jetzt noch alle Bäume ringsum die Terrasse durchsauste. „Es wird schön werden, Sie bestimmen die Zeit des Aufbruchs, Herr Doktor", sagte Richard freudig erregt. „Spät darf es nicht sein, wir müssen oben anlangen, bevor die Mittagshitze da ist." „Ich möchte die Herrschaften in keiner Weise hemmen", 157 entgegnete der Doktor, „was mich betrifft, ziehe ich vor, meinen Entschluß erst morgen früh zu fassen." „Es ist ja, um Ihnen das Land zu zeigen, daß wir wünschen, die Partie zu machen, Herr Doktor", fiel Erna ein, „so kommt ja nicht in Frage, was wir thun werden, bis Sie morgen einen bestimmten Entschluß gefaßt haben." Doktor Strahl dankte für die Freundlichkeit, wollte aber dagegen Einwendungen machen, daß von seinem Entschluß die ganze Unternehmung abhängig gemacht werden sollte. Es half nichts. Es wurde ihm bewiesen, daß der Hauptgenuß solcher Partieen immer darin bestehe, sie in erwünschter Gesellschaft zu machen und daß die ganze Tagesfreude von seinem Entschluß abhänge. Der Entscheid wurde dann auf morgen früh verschoben und nach einigem Hin- und Hergehen auf der Terrasse zog sich der Doktor zurück, viel früher als gewöhnlich. In Waldemars Zimmer, wo er jetzt eintrat, fand er Dori an derselben Stelle sitzend, wo er sie vorher schon getroffen hatte. Sie war gleich nach Tisch verschwunden; Otto mit ihr. Oskar hatte sich so bald als möglich von der Terrasse weggeschlichen und war dahin zurückgekehrt, wo er sich wohl fühlte. Spyri, WaS aus ihr geworden ist. 11 158 Der Doktor war nicht überrascht, alle zusammen zu finden. Er setzte sich zu der Gruppe. „Es sieht ganz gemütlich aus in dieser Krankenstube', sagte er, „so mag man wohl ein wenig krank sein, nicht wahr, Waldemar? Ich will nicht mehr dareinreden mit Ihrer Pflege, ich lasse Sie ganz gewähren, Tante Dori, Sie möchten sonst denken, ich glaube Ihren Worten nicht, die Sie darüber ausgesprochen haben. Ich nehme diese ganz für wahr an, darüber aber habe ich mich in einer günstigen Stunde noch mit Ihnen ins klare zu setzen, was Sie von mir annehmen, das ich wissen sollte, die großen Vorzüge vieler anderer Frauen betreffend. Heute wollen wir uns in keine Besprechungen mehr einlassen, wir wollen uns nur noch freuen, daß du erst hier und nicht schon auf der Reise krank geworden bist, mein Junge, hier bist du so herrlich besorgt." Waldemar nickte ganz befriedigt. Jetzt trat das Mädchen ins Zimmer mit mehreren Fläschchen, einem silbernen Büchschen, einem Eisbeutel und einem Luftkissen Die Damen Maurizius sandten die verschiedenen Gegenstände für den kranken jungen Herrn; das Kissen sollte unter den Kopf gelegt werden, der Gebrauch der übrigen Gegenstände wäre den Herrschaften schon be- 159 kannt, berichtete das Mädchen. Doktor Strahl ließ den Damen seinen herzlichen Dank für alle ihre Teilnahme bezeugen, ihm thue nur leid, daß sie sich so sehr um den Kranken bemühten. Das Mädchen ging. Der Doktor fand es völlig rührend, wie die Damen sich um den kranken Jungen kümmerten; doch meinte er, für einmal sollte man die verschiedenen Hilfsmittel beiseite legen und bei den Anordnungen des Arztes bleiben. Es klopfte schon wieder, das Mädchen traf nochmals ein: die Damen ließen bitten, dem jungen Herrn von der kühlenden Erfrischung etwas zu geben, es möchte ihm vielleicht wohlthun. Das Mädchen hatte einen Teller mit frischen Orangen und eine Flasche Zitronensaft auf den Tisch gestellt. Doktor Strahl konnte nur seine wiederholten Danksagungen zurückschicken, er würde aber morgen den Damen seine Aufwartung selbst machen, um seinen Dank auszusprechen. „Diese unverdiente Freundlichkeit ist mir rührend und beschämend", sagte er, als das Mädchen die Thür hinter sich geschlossen hatte. „Wir haben ja doch den Damen noch gar nichts bieten können! Wie sehr wünschte ich, daß wir uns ihnen in irgendetwas gefällig erweisen könnten!" Er meinte nach einiger Zeit, wenn Dori seiner Ansicht wäre, so würden sie nun alle den Kranken verlassen, er 11 » 160 würde wohl eher den Schlaf finden in völliger Stille. Sollte er etwas bedürfen, so wäre ja Oskar in der Nähe, der könnte ihm beistehen. Dort war wohl einverstanden mit der Anordnung, doch wollte sie die letzte sein, die das Zimmer verließe, was der Doktor lächelnd gewährte. Nun begann erst ein Rüsten und Räumen im Zimmer, an das kein Mensch gedacht hätte. Da mußte alles, was der Kranke nötig haben konnte, in seiner Nähe so aufgestellt werden, daß er es ohne Mühe ergreifen konnte. Da mußte ein Nachtlicht hergerichtet werden, dann war es nötig, die Kissen noch einmal zu schütteln und die Decke zu strecken. Endlich war alles in Ordnung. Oskar hatte aufmerksam zugeschaut, wie Dort alles so sorgfältig für Waldemar zugerüstet hatte. „Wenn Sie nicht dagewesen wären, Tante Dort, so hätte ihm ja niemand das alles so schön zurechtgemacht", sagte Oskar. „Desto besser, daß ich eben da war", entgegnete Dort. „Es sind ja nur kleine Dinge, die ich ihm zurechtmache, aber so ist ihm wohler. Thun Sie mir nun noch einen Gefallen, Oskar? Wollen Sie Ihre Thür unverschlossen lassen? Das Haus ist ja so sicher, Sie fürchten sich doch nicht?" 161 „O bewahre! Ich verstehe wohl", sagte Oskar, „Sie wollen später wiederkommen und sehen, ob Waldemar etwas bedarf. Ich könnte das wirklich nicht thun, denn sobald ich den Sprung ins Bett hinein gethan, so schlaf' ich auch schon. Sonst wollte ich gern versprechen, daß ich ihn fragen will." Dori war ganz zufrieden mit dem Versprechen, das sie erreicht hatte; dann ging sie, von Otto gefolgt, der still in einer Ecke sitzend seine Zeit abgewartet hatte. Als sie jetzt in sein Zimmer eintraten, sagte er seufzend: „Wenn wir nur bald nach Cavandone gehen könnten!" Aber Dori verwies es ihm, daß er jetzt diesen Wunsch ausspreche, er müßte sich doch freuen, nun mit dem Vater und den Brü- dern zusammen zu sein und gar nicht fort begehren. Es ging ihr aber eigen: je mehr sie gegen dieses Begehren sprach, je klarer fühlte sie, daß es auch in ihrem Herzen aufgestiegen war und immer lebendiger wurde. Als ihr Junge sie heute auf sich niederzog, um ihr den Nachtkuß zu geben, da hielt sie ihn so zärtlich fest, als sollte er ihr genommen werden. Dann mußte sie sich rasch abwenden, ihre Thränen durften nicht auf ihn fallen. Was war denn über sie gekommen? Dori setzte sich in ihrem Zimmer hin, legte den Kopf in ihre Hände und wollte ruhig alles 162 überdenken, was so plötzlich wie im Sturm ihr innerstes Wesen aufgewühlt, wie sie es nie gekannt hatte? Sollte es wirklich kommen, was sie in Augenblicken sich schon vorgestellt, dann schnell wieder verworfen hatte. Sollte Doktor Strahl wirklich von Fräulein Erna angezogen sein, so sehr, daß er sie zur Lebensgefährtin, zur Mutter seiner Söhne erwählen könnte? Warum denn nicht? War sie nicht eine so vielseitig gebildete Dame, daß sie über alles mit ihm sprechen konnte? Mußte sie in der Gesellschaft nicht besonders gefeiert werden mit ihrer Gewandtheit und ihrer Unterhaltungsgabe? Und wie schön sang sie! — Ihre Stimme erinnerte ihn an die Frau, die er verloren hatte. Ja, es lag ja so nahe, es mußte Wohl so kommen. Ihre Gesinnung war auch zu erraten. Dieselbe Dame, die für Otto, der nur zu einer unbedeutenden Pflegerin gehörte, nie ein freundliches Wort, nicht einmal einen freundlichen Blick gehabt, im Gegenteil, ihn nicht selten ihren Mangel an Sympathie für ihn deutlich genug hatte fühlen lassen —, konnte heute nicht genug Teilnahme für den Bruder zeigen und häufte eine Freundlichkeit auf die andere für ihn. Freilich, dieser war im Geleite seines Vaters gekommen, und was für eines Vaters! Es war nicht schwer zu erraten, wem die Huldigungen galten. Warum preßte nur der 163 Gedanke ihr Herz so zusammen? Aber konnte es denn anders sein, wenn sie diese Dame als Mutter ihres Jungen vor sich sah? Ihr war, als müsse sie laut aufschreien: nein! Es kann ja nicht sein! Dori sprang von ihrem Stuhl auf und ging im Zimmer hin und her. Was hatte sie sich denn ausgedacht? Wie waren ihr diese Gedanken gekommen? Vielleicht war alles in ihrer eigenen Einbildung entstanden. Aber sie hatte ja nach Waldemar sehen wollen. Sie huschte leise hinüber. Oskar zog so tiefe Atemzüge, daß wohl zu hören war, wie fest er schlief. Dori beugte sich auf den Kranken nieder und fragte leise: „Schlafen Sie, Waldemar?" „Nein, gar kein bißchen", war die Antwort, „und das Tuch auf der Stirn liegt auch nicht gut, ich konnte es nicht mehr so knüpfen, wie es vorher war, ich hatte es im Wasser frisch machen wollen." Das konnte Dori sehen, es war wie ein Strick um den Kopf gewunden. „Nein, so geht's nicht", sagte sie, den Umschlag wegnehmend, „so wird's besser sein. Und nun die Medizin, haben Sie schon davon genommen?" „Nein, der Kork war so hart in der Flasche, dann ist er mir abgebrochen", berichtete Waldemar. 164 Dort besah sich den Schaden. Sie wußte erst nicht recht, wie zu helfen war, der Kork saß tief drinnen und unbeweglich fest. Ein Korkzieher war mitten in der Nacht nicht zu erhalten. Sie holte sich Messer und Scheere in ihrem Zimmer und suchte damit zum Ziel zu kommen. Es war nicht leicht, aber endlich gelang es doch. Nun füllte Dori die kleine Schale und reichte sie Waldemar. Noch war kein Schlaf in seinen Augen zu sehen. Dori konnte ihn nicht gleich wieder allein lassen, sie setzte sich an sein Bett nieder. „Wollen Sie ein wenig bei mir bleiben?" fragte er erfreut. „Ich bin so froh darüber! Wenn ich nicht schlafen kann, dann kommen mir so viel traurige Sachen in den Sinn. Aber ich wollte so gern, daß Sie mich du nennen sollten, ich bin ja doch kein Herr, ich bin ja nur 15 Jahr alt." „Glaubst du, daß es deinem Vater auch recht ist, wenn ich so thue?' fragte Dori. „O ja, gewiß", versicherte Waldemar. „Oskar hat letzthin gesagt, wenn wir nach Cavandone gehen und für die Ferien bei Ihnen bleiben dürfen, dann wolle er Sie auch bitten, uns du zu nennen, wie den Otto, der sollte Sie nicht allein als Tante haben. Dann hat Papa ge- 165 sagt, wir hätten dann vor allem Sie zu fragen, ob Sie uns so nah an sich herankommen lassen wollen, als ob wir zu Ihnen gehörten." „Ja, das will ich nun ganz gern", entgegnete Dori. „Zu einer Tante gehört man von vornherein und das bin ich nun schon für alle drei. Aber sag mir nun, Walde- mar, was ist das Traurige, woran du denkst, wenn du schlaflos daliegst?" „Ich denke dann' an viele Tage bis weit zurück, wie wir noch klein waren, Oskar und ich, und ich weiß gar keine Zeit, in der ich recht fröhlich sein konnte: es machte mich immer etwas traurig, und ich weiß wohl, was es war." „Und was war eS denn, Waldemar?" fragte Dori. „Es war, daß alle Menschen immer nur Oskar lieb hatten, mich hatte niemand gern, gar niemand." „Ach, Waldemar, das hast du dir wohl eingebildet", meinte Dori. Waldemar schüttelte ganz ernsthaft den Kopf: .Nein, nein, ich weiß es ganz bestimmt und viele Leute haben es mir so deutlich gezeigt! Eine Dame hat auch einmal zu Fräulein Smele gesagt, als sie uns aus einer Gesellschaft bei der Dame abholte: ,Nie habe sie so ungleiche Brüder 166 gesehen. Der eine so offen und liebenswürdig und entgegenkommend und der andere gerade das Gegenteil/ Und nachher sagte sie noch: Schon im äußeren seien wir so verschieden. Wie doch ein Bruder so glänzend und feurig und der andere so fade aussehen könne. Sie wußte nicht, daß ich gleich hinter ihr stand. Ich verstand recht gut, wer so fade aussah, daß die Leute ihn nicht gern sehen mochten. Und Fräulein Smele sagte auch viele Worte, die mir verständlich machten, daß man Oskar lieb haben könne und mich nicht." „Aber dein Vater hat dir gewiß immer dieselbe Liebe gezeigt wie deinem Bruder", wandte Dort ein. „Ja, aber er konnte ja nicht anders als den Oskar lieber haben; wenn dieser doch immer fröhlich sein konnte und dem Papa, wenn er traurig war, so lustige Sachen zu erzählen wußte, daß es den Papa wieder erheiterte und er auf einmal lachen konnte. Dann hat er den Oskar manchmal um den Hals gefaßt und festgehalten, so wie wenn er einen Trost festhalten wollte; das konnte ich ja nie für ihn sein." „Aber wenn du doch empfandest, Waldemar, daß der Vater es nötig hatte, erheitert und getröstet zu werden, konntest du dann nicht auch etwas für ihn _ 167 thun, das ihn freute? Du hast ja deinen Vater doch sehr lieb." „Ja, eben darum, wenn ich ihn so sah, wie er vor Traurigkeit kein Wort zu uns sagen mochte, dann hat es mir so weh gethan, daß ich gar nichts thun und auch nicht reden konnte, dann hatte ich nur immer zu kämpfen, daß ich nicht weinen mußte. Und auch wenn Papa gar nicht traurig war, so konnte ich ihn nie so unterhalten und ihm Freude machen, wie Oskar es kann. Er ist eben von vornherein so, er muß nichts Besonderes machen, ich begreife es ganz gut, daß alle Menschen ihn lieb haben und mich nicht; das hat mich dann noch scheuer gegen alle Leute gemacht, weil ich das immer so deutlich fühlte." „Siehst du, Waldemar", sagte Dort, „nicht viele können so von vornherein einnehmen ohne alles Hinzuthun, nur schon durch ihr Wesen und ihre Erscheinung, das sind sehr bevorzugte Menschen. Aber jeder hat etwas, wodurch er die andern gewinnen kann. Wenn er gleich mit Liebe und Vertrauen ihnen entgegengeht und gar nicht an sich denkt, sondern nur an die andern, und was er thun könnte, das sie freuen würde." „O, ich kann nicht so sein, zu niemand, das kann Oskar thun und dann haben ihn die Leute um deswillen 168 noch um so lieber. Aber wenn ich immer gleich von vornherein fühle, sie mögen mich nicht, dann kann ich ihnen ja nicht so entgegengehen, ich muß mich ja scheuen, ihnen nur nahe zu kommen, können Sie das gar nicht begreifen, Tante Dori?" Armer Waldemar, dachte Dori, nicht nur gehörte er nie zu den Kindern, die aller Herzen gewinnen schon durch ihre Erscheinung, sondern auch jene Liebe, die dem Kinde jede andere leicht entbehrlich macht, hatte er nie gekannt, die Liebe einer Mutter. „Ich kann wohl begreifen, daß es dich schmerzt, was du erfährst", sagte sie dann, „wenn es auch manchmal nur etwas wäre, das du dir einbildest, es thut doch weh, um so mehr, wenn du es so in dich verschließest und es niemand sagen kannst. Ich weiß wohl, wie es thut, wenn man als Kind leidet, man fühlt das Weh so schrecklich schwer, weil man keine Wehr dagegen hat und denkt, es werde nimmer aufhören, so müsse es durch das ganze Leben in uns bleiben. Aber später kommt es anders, das wirst du auch erfahren, und das Schwere, das du getragen hast, ganz anders ansehen. Du wirst erfahren, daß du gerade dadurch gewonnen hast, was dich vielen Menschen lieb machen wird, denn du kannst dann andern wohlthun damit, daß du verstehen kannst, was ihnen weh thut; du hast es selbst erlebt und kannst ihr Leid mit ihnen tragen. Und noch ein viel besserer Trost kommt dir dann ins Herz damit: das feste Vertrauen und die Zuversicht, daß dein Vater im Himmel dich so lieb hat wie seine anderen Kinder, daß er dich nur auf einem andern Wege Freude und Befriedigung finden lassen mußte, als andere ihn gehen. Willst du daran denken, Waldemar, wenn dir die traurigen Gedanken wieder kommen, daß dir die beste Freude aus dem Schweren, das du trägst, erwachsen wird? Dann wird es dir auch jetzt schon leichter vorkommen." „Ja, ich will wohl", antwortete Waldemar. „Wenn Sie immer bei mir wären, dann könnte ich gut alles so annehmen; aber es wäre dann alles nicht mehr schwer, weil Sie so lieb mit mir sind, und weil ich zu Ihnen reden kann, wie sonst zu niemand." Eben jetzt schlug es zwei Uhr. „Ich glaube, du solltest nun versuchen, zu schlafen", sagte Dori, nahm rasch noch einmal den kalten Umschlag zur Hand, tauchte ihn ein und band ihn wieder um die Stirne fest. „Auch noch einmal die Medizin, die wird gut thun." Dori goß den braunen, wenig lockenden Saft in die Schale. 170 „Die hätte ich gar nicht nehmen können, wenn Sie nicht gekommen wären", sagte Waldemar, „was hätte dann der Arzt gesagt und auch der Papa?" Jetzt schluckte der Junge mit völliger Befriedigung den bitteren Trunk hinunter. „So, mein lieber Waldemar, nun suchst du zu schlafen; ich bin aber ganz in deiner Nähe, du hast nur die Klingel zu berühren, ich höre sie augenblicklich und bin wieder bei dir." Dori hielt liebevoll die Hand ihres Kranken noch einen Augenblick fest, dann ging sie nach ihrem Zimmer. Sie blieb noch an ihrem Fenster stehen. Der helle Himmel war von strahlenden Sternen übersäet, ein herrlicher Tag war vorauszusehen. Ein Tag für die Partie nach der Höhe, sagte sich Dori. Wie leicht und ungezwungen war der Verkehr auf solchen Wanderungen! Wie anders als im Gesellschaftssaal! Ein einziger Tag so verlebt, brachte die, welche sich zusammenhielten, einander näher als sonst wohl Wochen. Dori mußte weiter und weiter denken, immer noch blieb sie am Fenster stehen, sie fühlte keinen Schlaf. Wohl zwei Stunden waren ihr so vergangen; dann ging sie leise, leise noch einmal nach dem Krankenzimmer hinüber. Waldemar lag ruhig schlafend auf seinem Kissen. 171 Einen Augenblick schaute Dori auf das auch im Schlaf so ernste, fast traurige und doch noch so junge Ge- sichtchen. Dann zog sie sich so leise zurück, wie sie gekommen war. Zehntes Kapitel. In der Frühe des Morgens trat Doktor Strahl ins Zimmer seiner Söhne. Noch schlief Oskar so fest, daß das Eintreten des Vaters ihn nicht im mindesten störte. Waldemar saß aufrecht in seinem Bett und schaute dem Eintretenden mit freudeleuchtenden Augen entgegen. „Na, mein Junge, du siehst gut aus", sagte der Vater zu ihm tretend und seine Hand ergreifend, „du hast wohl prachtvoll geschlafen und fühlst dich wieder ganz wohl?" „O ja, es ist mir viel besser", entgegnete Waldemar, „aber geschlafen habe ich nicht viel, es war mir aber ganz recht, denn Tante Dori blieb lange bei mir, einige Stunden lang, bis ich dann schlafen konnte. Es ist so herrlich, daß sie hier ist." „Aber Waldemar, hast du nicht etwa geträumt?" fragte der Vater. „War denn Tante Dori wieder bei dir, nachdem wir dich verlassen hatten?" „Ja, und recht lange, sie sah wohl, daß ich nicht schlafen konnte", entgegnete Waldemar, „und ich war so froh, denn die Umschläge band sie mir viel besser um, als ich es machen konnte, und die Medizin hätte ich auch nicht nehmen können ohne sie." „Oskar", rief der Vater hinüber, „wann wirst denn du erwachen? Die helle Sonne leuchtet draußen, es wird ein wundervoller Tag werden!" So war es. Die letzte Wolke war von dem heftigen Südwind verweht; dunkelblau leuchtete der Himmel über dem grauen Olivenwald droben und weithin über die blitzende Meeresflut. „Prachtvoller Tag zu unserem Ausflug, Herr Doktor", rief Richard Maurizius, aus dem Garten hereinkommend, dem Doktor entgegen, der eben den forteilenden Arzt in der Halle verabschiedet hatte. „Beruhigender Zustand des jungen Patienten, wie ich hoffe", setzte er hinzu, in die Halle eintretend. „Sehr", entgegnete der Doktor, für die Teilnahme dankend. „Heute soll er ruhig liegen bleiben, dann werde morgen alles gut sein, lautete der Ausspruch des Arztes." „Vortrefflich, so können wir gleich unsere Anordnungen treffen, wir müssen beizeiten fort, um die Höhe zu gewinnen, Spyri, Was aus ihr geworden ist. 12 174 bevor die Mittagssonne glüht. Erna, Ihr kommt gerade recht", rief Richard seinen Schwestern zu, die von oben die Treppe herunter kamen, „eben sind wir im Begriff, unsere Partie anzuordnen." „Entschuldigen Sie", sagte der Doktor, „ich möchte Ihre Anordnungen in keiner Weise stören, nur muß ich bitten, mich für heute nicht zu den Teilnehmern der Partie zu zählen." „Aber Herr Doktor, Sie sind ja die Hauptperson", rief Richard aus, „um Ihretwillen wollen wir ja gerade den Ausflug machen, um Ihnen den herrlichen Waldweg und nachher die unvergleichliche Aussicht von der freien Höhe zu zeigen! Erna, hilf du den Herrn Doktor zu überzeugen, daß die Partie ausgeführt werden muß", forderte Richard die jetzt herzugetretene Schwester auf, „wir müssen den wundervollen Tage benutzen! Ein solcher Himmel und diese Klarheit bis in alle Ferne muß genossen werden! Die Insel Corsika wird durch die klare Luft uns so nahe gerückt werden, daß sie anzuschauen sein wird, wie ein in allen Farben schimmernder Blumengarten, der sich aus der smaragdgrünen Meerflut erhebt." „Vielleicht nicht ganz so deutlich", berichtigte Erna, .mir ist die Insel bis jetzt nur als wie ein schwarzer Streifen sichtbar geworden. Aber darin muß ich meinem Bruder recht geben: Die Klarheit der Luft ist heute so wundervoll, wie ich sie kaum je gesehen habe. Das Wetter ist aber durch den Südwind hell geworden und wird kaum Bestand haben/ „Ganz richtig, die Partie muß unbedingt heute ausgeführt werden, völlig unbedingt", setzte der Bruder fest. „Ich bin auch der Ansicht, dieser Tag sollte zu dem besonders lohnenden Ausflug benutzt werden", sagte Doktor Strahl, „nur mich müssen Sie für heute freundlichst entschuldigen." „Es wird doch nichts Neues bei Ihrem Sohne eingetreten sein?" fragte Erna mit Teilnahme. .Als ich früh das Mädchen nach seinem Zimmer schickte, um zu fragen, wie die Nacht gewesen sei, brachte sie sehr guten Bescheid zurück. Ich sah eben den Arzt hinausgehen, er hat doch nichts Beängstigendes gefunden?" .Gar nichts", erwiderte der Doktor. „Es war sehr freundlich von Ihnen, sich nach dem Befinden des Jungen erkundigen zu lassen. Er hat für heute noch Zimmer- und Bettarrest, dann wird alles gut sein." „O dann ist unsere Partie nicht verloren!" rief Erna erfreut aus. „Gewiß findet sich jemand, der dem jungen 176 Herrn gern Gesellschaft leistet. Da sind auch so viele illustrierte Blätter im Hause, an denen er sich vergnügen wird." „Ich will auch ganz gern bei ihm zuhause bleiben, Papa", sagte Oskar, der, neben dem Vater stehend, das Gespräch verfolgte, „Tante Dort bleibt auch bei ihm, sie hat es Waldemar schon versprochen." „Ich glaube, das Beste wird sein, wir verschieben die Partie bis morgen', fiel Richard rasch ein, .ich kann gut begreifen, daß unser Herr Doktor nur mit dem halben Vergnügen dabei sein könnte, wenn er seine Söhne nicht mit hätte, das geht ja nicht, wir warten, wir warten entschieden." Der Doktor empfahl der Gesellschaft nochmals, doch ja den herrlichen Tag sich nicht entgehen zu lassen, dann entfernte er sich mit Oskar. Die Geschwister machten einen Gang durch den Garten zusammen. Erna ging schweigend und sichtbar verstimmt neben den beiden andern her, von Zeit zu Zeit mit dem Sonnenschirm einige Halme am Weg zusammenquetschend. .Du kannst nun wohl selbst sehen, Richard", sagte Wera, „daß es kein leichtes wäre, diese Familie auf sich zu nehmen, wo sogar die halb erwachsenen Söhne vom Vater bedient und bewacht nnd behandelt werden müssen, als wären sie hilflose Kinder. Was würde da erst von einer Mutter gefordert!" „Ich sehe noch gar nichts so Schreckliches darin, wenn am fremden Orte der Vater seinen Jungen nicht einen ganzen Tag lang allein liegen lassen will", entgegnete Richard, „und am wenigsten hätte ich es begriffen, wenn Doktor Strahl es angenommen hätte, daß Fräulein Mau- rizius am Bett des Jungen ihren Tag versitze, damit der Vater ohne Sorge spazieren gehen könne." „Warum denn nicht?" brach Erna nun los, „sie war doch schon zur Pflege des Jüngsten hergekommen, da konnte sie doch den andern auch hüten, wenn es doch einmal sein mußte. Daß Doktor Strahl lieber eine Art Dame bei seinen Jungen sieht, als eine gewöhnliche Kinderpflegerin, kann man ja wohl begreifen, er ist eben ein feiner Mann und die Berührung mit dem Gewöhnlichen ist ihm unangenehm. Aber sie führt sich abgeschmackt auf, sie macht aus jedem Mückenstich an den Jungen ein Fieber auf Leben und Tod. Er ist ja einer der liebenswürdigsten Menschen, aber ein schwacher Vater ist der Doktor natürlich, wie viele andere Väter. Ist es da nicht ein wahres Unheil für ihn, daß die Pflegerin, die er für seinen auch mehr 178 eingebildet kranken Jüngsten engagiert hat, ihn in tausend Ängste Hineinsteigert auch noch für die anderen beiden, wo für klar sehende Menschen nicht die mindeste Angst aufsteigen würde!" „Du weißt ja gar nicht, ob Fräulein Maurizius als Krankenpflegerin engagiert, ob sie nicht vielmehr eine Verwandte des Hauses ist", fiel Richard etwas empfindlich ein. „Verwandte des Hauses!" wiederholte Erna spöttisch, „das wäre schon lange ausgesprochen worden. Solche Verhältnisse muß mir ein grüner, unerfahrener Mensch, wie du bist, nicht erklären. Bequem ist dem Doktor die junge Angestellte, die wahrscheinlich von guter Abkunft, ökonomisch heruntergekommen ist, oder vielmehr werden es die Eltern schon gewesen sein, daher die offenbaren Lücken in ihrer gesellschaftlichen Bildung. Sie wird einer künftigen Frau des Doktors den Weg so erschweren, daß sie dafür eine gehörige Strafe verdiente und nicht eine Anerkennung, wie du sie einfältigerweise aufzustellen Lust hättest. Das sind die Frauen, die den Männern den Begriff beibringen, die Frau sei dazu da, ihnen zu dienen und dafür zu arbeiten, ihren Herren ein angenehmes Leben in ihrem Hause zu bereiten —" „Um ihnen also ihr Haus lieb zu machen und sie zu der Arbeit, die sie draußen zu verrichten haben, zu ermutigen und sie ihnen zu erleichtern im Hinblick auf die Annehmlichkeit, die sie nachher zuhause erwartet", ergänzte Richard. „Wäre diese Teilung der Arbeit denn so schrecklich?" „Man wird doch nicht immer gleich an Arbeit denken müssen, wenn man sich zur Ehe entschließen soll", warf Erna etwas verächtlich hin. „Du scheinst die Ehe als eine Institution zu betrachten, errichtet für jüngere Damen, die sich zur Ruhe setzen wollen", sagte Richard. „Damit würdest du besser in orientalische als in europäische Verhältnisse passen. Ich für meinen Teil schwärme noch für den veralteten Begriff, daß eine Frau dafür arbeite, sich und ihrem Mann eine angenehme Häuslichkeit zu bereiten. Ich denke auch nicht ungem daran, daß eine Persönlichkeit wie meine neue Cousine ist, diese Anschauung teilt, und daß dereinst der Glückliche, in dessen Haus sie walten wird —" „Wir schenken dir die Fortsetzung der Rede, Richard", unterbrach ihn Erna, „wirst du denn nicht endlich Vernunft annehmen? Du hast wirklich noch viel mehr Ursache, dich zu besinnen, als ich." 180 Die Geschwister hatten nun wieder das Haus erreicht und traten ein. Dort hatte sich darauf gefreut, einen Tag ganz in der Stille, allein mit Waldemar zuzubringen, während die geplante Partie ausgeführt würde, der sie so gern entgehen wollte. Sie war ein wenig enttäuscht, als Oskar herein- gerannt kam, um zu berichten, daß niemand spazieren gehen wolle. „Die andern nicht, weil Papa nicht gehen will, Papa nicht, weil Waldemar nicht mitkommen könnte", erläuterte Oskar; „und Herr Maurizius hat auch auf der Stelle nicht mehr gewollt, sobald ich sagte, Sie kommen auch nicht mit, Tante Dori. Das habe ich wohl gemerkt, er muß nicht meinen, daß ich so dumm sei und nichts merke. Aber es ist ganz recht, nun bleiben wir hier für uns den ganzen Tag und machen uns lustig. Hier sieht's heut' auch so nett aus." Jetzt trat Doktor Strahl ins Zimmer. Er schaute sich verwundert um. Das Schlafzimmer war in einen kleinen Gartensaal umgewandelt. Blumen aller Farben schmückten den Tisch und leuchteten aus allen Ecken. Oskars Bett war hinter einer Wand verschwunden, die von oben bis unten von grünen Ranken umhängen war. 181 „Tante Dort hat alles so schön gerüstet", sagte Walde- mar, der des Vaters erstaunte Blicke wahr nahm, „sie sagte, weil ich nicht mit euch den schönen Garten entlang wandern könne, wollte sie mir den kleinen Garten ins Zimmer bringen. Ist es nicht nett?" „Ganz lieblich ist es hier", stimmte der Vater bei, „und die Gesellschaft sitzt so gemütlich beisammen, daß man sich auch gern da niederlassen möchte." „Ja, komm nur, Papa, du bist recht freundlich eingeladen", sagte Oskar, „wir wollen heute einmal einen urgemütlichen Tag in Bordighera verleben." .Ich bin dabei", sagte der Vater lächelnd. .Nur ist eben die Post eingegangen, da muß ich erst noch nachsehen, was sie gebracht hat." Noch richtete er einige freundlich anerkennende Worte an Dori, über ihre Gabe, selbst eine Krankenstube zum begehrten Festsaal umzugestalten. Dann entfernte er sich. Erst um seine kleine Familie zum Mittagstisch abzuholen, wie er sagte, trat er wieder ein. Viel mehr, als er erwartet, hatte ihm die Post gebracht, noch jetzt war nicht alles bewältigt, was ihm an Arbeit eingegangen war. Als man sich nach Tisch wieder trennte, bemerkte Doktor Strahl, zu Dori gewandt: „Nun werden Sie sich aber für einige 182 Zeit zurückziehen, Waldemar mag ein wenig für sich sein und wünscht er Gesellschaft, so ist Oskar da. Sich von den Jungen quälen lassen, dürfen Sie denn doch nicht.' Dori erwiderte ein wenig lachend, es habe sie wirklich noch keiner von ihnen gequält, sie würde sich Wohl zu wehren wissen. Kaum war aber der Doktor hinter seiner Zimmerthür verschwunden, als Oskar Dori nachrannte und mit in Waldemars Stube eintrat. „Ziehen Sie sich wirklich zurück?" fragte er. „Es war so nett heut' Morgen, und ich habe noch viel zu erklären, bis Sie ganz verstehen können, wie diese Meerschiffe gebaut sind. Ich will aber ein solches großes Segelschiff vorweg zeichnen, wie ich es beschreibe, so können Sie es am besten sich vorstellen. Ich bin nur so froh, daß es Sie so recht interessiert, wenn man nicht recht zuhört, dann ist das Beschreiben gar nicht lustig.' „Waldemar, bist du nicht müde, so daß du ein wenig schlafen möchtest?" fragte Dori; „schmerzt dein Kopf gar nicht mehr?" Waldemar versicherte, daß er gar nicht schlafen möchte, daß sein Kopfschmerz weg sei. Viel lieber als schlafen sei ihm, wenn Tante Dori dableiben wolle. „Daheim werde ich dann wieder genug allein sein, wenn ich unwohl bin", setzte er hinzu. „Bist du oft so unwohl, daß du zu Bett bleiben mußt, Wäldernar?" fragte Dort wieder. „Alle paar Wochen einmal liegt der arme Kerl wieder in der Coje", antwortete Oskar schnell, „aber wir lassen ihn nicht aus Bosheit allein, Papa und ich, das müssen Sie nicht etwa denken. Ich muß zur Schule und Papa ins Kolleg, da hilft nun einmal nichts." „An Bosheit hätte ich wirklich in diesem Falle nie gedacht", versicherte Dori. Nun begann die verheißene Beschreibung, begleitet von einer recht genauen und hübschen Zeichnung des Seglers; die lebhafte Unterhaltung dauerte ununterbrochen fort, wohl zwei Stunden lang. Jetzt trat der Vater wieder ein: „Schon wieder alle auf einem Häufchen zusammen, so nah als möglich", sagte er lächelnd. ,O Papa, es ist nicht schon wieder, es ist immer noch", berichtigte Oskar, „wir sind gar nicht auseinandergegangen, seit du uns verlassen hast." „Um so mehr wünsche ich nun, daß die dergestalt belagerte Tante sich frei mache und ein wenig hinausgehe in die schöne, frische Abendluft", sagte der Doktor. „Ich habe wirklich kein Bedürfnis und keinen Wunsch, hinauszugehen, Herr Doktor", versicherte Dori, „die gute Luft strömt uns hier durch die offenen Fenster prächtig herein. Nur für Otto möchte es gut sein, noch einen Gang zu machen, er wird ja Freude haben, den Vater zu begleiten, er kennt noch viele schöne Stellen, die wir zusammen aufgefunden haben." .Mein Gedanke war, daß Sie mit Otto hinausgehen sollten, und ich hier Ihren Platz einnehmen würde", sagte der Doktor. „Der Tante Dori ist für heute genug zugemutet worden." „O nein, Herr Doktor, von Zumutungen weiß ich nichts", versicherte Dori. „Es war mein eigener Wunsch, mit Waldemar zu bleiben, und Oskar hat uns die ganze Zeit vortrefflich unterhalten. Wenn es Ihnen nicht unlieb ist, so bleibe ich am liebsten heute hier. Ich habe ja seit Wochen nichts gethan, als spazierengehen." „Wie sollte es mir unlieb sein, wenn Sie in Ihrer Freundlichkeit für meinen Jungen nun einmal so weit gehen wollen, wie Sie für gut finden, denn die ist ja doch der Grund Ihres Hierbleibens", sagte der Doktor mit freundlichem Lächeln. „So kommt ihr beide, wenn ihr euch für eine Stunde von eurer Tante Dort trennen könnt, wir wollen einen Gang machen." Der Doktor zog aus mit seinen Söhnen. Eine Stunde war längst vorüber, bald auch die zweite und die dritte dazu. Lange schon hatte die Glocke zum Abendtisch gerufen, und noch waren die drei Spaziergänger nicht zurückgekehrt. Sonst war Doktor Strahl immer so pünktlich, was konnte ihn an seiner Rückkehr hindern? fragte sich Dori. Sie wollte nicht zu Tisch gehen, bevor Otto da war, er würde jedenfalls ihrer Hilfe bedürfen, um nach dem langen Spaziergang bei Tisch in voller Ordnung zu erscheinen. Endlich hörte sie die Jungen auf der Treppe, sie kamen hereingestürzt. Gleich wollten sie alle beide miteinander erzählen, was sich zugetragen hatte, aber Dori sagte schnell: „Nicht jetzt, ihr dürft nicht den Vater warten lassen." Sie nahm Otto bei der Hand und führte ihn nach seinem Zimmer; Staub und Hitze hatten ihn so zugerichtet, daß eine gründliche Erneuerung notwendig war. Dori trat mit Otto eben in den Speisesaal, als von der anderen Seite Doktor Strabl in lebhaftem Gespräch mit Richard Maurizius eintrat. Oskar folgte ihnen. Erst nach einiger Zeit erschienen auch die Damen Maurizius. Daß eine große Aufregung in der Gesellschaft 186 herrschte, bemerkte Dort wohl, verstand aber nicht, um was es sich handelte, denn bis jetzt waren nur unzusammen- hängende Worte über eben Erlebtes und Ausrufungen des Dankes und der Beglückwünschung gefallen. „Ich sage nur das eine", rief Richard jetzt über den Tisch hin, „wären Sie mitgekommen, Fräulein Cousine, so wäre alles nicht begegnet, was deutlich beweist, daß es aus dem Übel ist, wenn Sie sich der Gesellschaft entziehen." Dori sagte, sie habe keine Ahnung, wovon die Rede sei. Nun erzählte Richard den Hergang des aufregenden Ereignisses: Doktor Strahl war mit seinen Söhnen im Garten von den Freunden Maurizius angehalten worden. Auch diese waren im Begriff, einen Gang zu machen. Es wurde beschlossen, der Doktor sollte nach der Schlucht geführt werden, der romantischen Thalenge, die er noch nicht kannte. Im Olivenwald, wo so viele Pfade sich kreuzen, verlor man den richtigen Weg, ging zu viel links und kam so unvermerkt in die Höhe, nicht achtend auf Ottos beharrliches Behaupten, es gehe nach rechts, er habe den Weg mit Tante Dori gemacht. Der Pfad nach links schien der Hauptpfad zu sein, der Junge mußte sich täuschen, wurde angenommen. 187 So gelangte man sachte höher und höher und mau begann zu ahnen, daß man tüchtig in die Irre gegangen war. „Plötzlich", schloß Richard seine Schilderung, „stehen wir nicht unten in der Schlucht, sondern hoch darüber, am schroff abstürzenden Felsen. Erna, mit dem Doktor vorangehend, bemerkt im Feuer der Unterhaltung nicht, wo sie hinkommt; schon hat sie den einen Fuß ins nichts gesetzt, der andere folgt nach — aber zwei feste Arme halten sie umfaßt und ziehen sie zurück; Doktor Strahl hat die Stürzende gerettet." .Du kannst nun wohl lachen, Richard", sagte Erna, „aber ich lache nicht, auch nicht in der Erinnerung. Nie werde ich den Augenblick vergessen, da ich fühlte, unter meinem Fuß ist kein Boden mehr, ich falle in den Abgrund. Ich verliere so bald die Besinnung nicht, aber da habe ich sie vor Schrecken verloren." „Aber der Retter war nahe", fiel Richard ein, indem er sein Glas erhob: „Auf Ihr Wohl, Herr Doktor, mögen Sie noch vielen über den Abgrund Schwebenden ein kühner Retter werden!" „Stoßen wir doch lieber darauf an, daß niemand in den Fall komme, über dem Abgrund zu schweben", entgeg- 188 nete der Doktor, das wiederholte Anstoßen des dankbaren Bruders freundlich erwidernd. Otto sah sehr müde aus. Noch war der erschlaffende Sirocco in der Luft; das lange Umherirren hatte den Jungen mehr ermattet als erfrischt. Dort verschwand leise mit ihm. Oskar kam nachgelaufen, auch er war müde. Dort trat noch in sein Zimmer ein, um nach Waldemar zu sehen; er schlief ruhig. Nun ging sie mit Otto nach ihrer Stube. Der Junge war bald eingeschlafen. Dori hatte sich an ihr Fenster gesetzt. Der Südwind, der so schnell den hellen Tag hergeführt hatte, begann schon, ihn wieder zu verwehen. Dunkle Wolken zogen rasch über den Himmel, in den Bäumen rauschte es mehr und mehr, so als nahte der Sturm. In Dori stieg ein Gefühl auf, als gehe mit dem scheidenden, schönen Tag alles zu Ende, was hier schön gewesen, das Zusammensein mit Doktor Strahl, mit seinen Söhnen, die sie so lieb gewonnen hatte, mit ihrem Otto, der ihr noch mehr angehörte als zuvor. Ihr war, als müßte alles für sie zu Ende gehen, alle Freude, alle Liebe, all ihr Notwendigsein für irgend jemand. Wäre sie nur daheim und müßte nicht alles sehen und hören, was kommen mußte. O wäre sie nie gekommen, das wäre wohl noch besser für sie gewesen. — „Nein, das will ich nicht wünschen", sagte Dori, sich schnell besinnend, „Otto hat sich hier erholt und ich durfte dazu beitragen, daß er gern da blieb". Sie hatte ja nur ihn liebhaben wollen und seine Bruder, warum wollte es sie denn erwürgen, daß der Vater diese Frau lieben sollte? Weil sie ihr selbst so fremd geblieben war? Dori fühlte wohl, diese Frau würde sie nicht als Tante ihrer Kinder wünschen, Otto würde ihr für immer genommen. In ihrem Herzen wurde der Kampf immer lauter. Draußen rauschte es immer heftiger in allen Bäumen. Jetzt hörte sie Stimmen im Garten, sie lauschte hinaus — da, unter ihrem Fenster, ging Doktor Strahl neben Fräulein Erna; sie sprachen beide mit solcher Lebhaftigkeit, wie sie ihn niemals sprechen gehört hatte. Jetzt, mitten aus dem Gespräch heraus reichten sie sich die Hände. Dori schloß das Fenster. Bald darauf hörte sie heftigen Regen daranschlagen, der Sturm war ausgebrochen. Er schüttelte die Bäume, rasselte an den Fenstern und toste, als wollte er das Haus umwerfen. Dori hörte ihn die ganze Nacht durch toben und heulen. Am Morgen war es grau draußen, Meer und Himmel ineinanderfließend, alles grau. „Heute wird wohl niemand zur großen Partie Lust 13 Spyri, Was aus ihr geworden i»'i. 190 haben", sagte Richard Maurizius lachend, als man sich am Mittagstisch zusammenfand. „Ihnen, Fräulein Cousine, hat die Sturmnacht auch zugesetzt, das werden Sie nicht leugnen wollen", setzte er, zu Dort gewandt, hinzu. Sie sah auffallend blaß aus. „Nein, das thu' ich nicht", antwortete sie kurz. „Es ist heute, als sei jedermann in Sirocco-Stimmung,,, sagte Richard wieder, die ungewöhnlich einsilbige Unterhaltung etwas zu beleben suchend. „Der böse Wind dringt bis tief in die Gründe der Seele hinab." Wirklich war es, als drücke die schwere Luft auf die sämtlichen Glieder der Gesellschaft. „Man muß heute Abend tüchtig Musik machen, um der Berheerung entgegenzuarbeiten, die dieser Sirocco in den Gemütern anrichtet", sagte wieder der nie ermüdende Gesellschafter Richard, als man vom Tisch aufstand. Doktor Strahl antwortete ihm zustimmend; dann ging man auseinander. Waldemar war wieder wohl. Die drei Brüder hatten vor, heute ein Spiel zu machen, dem mußte natürlich Tante Dori beiwohnen, das hatten sie schon unter sich ausgemacht. Als sie nun im Heraustreten Dori ihre Bitte vorbrachten, bedeutete ihnen der Vater sofort, daß davon keine Rede sein könne, sie könnten wohl sehen, daß sie ihre Tante Dori so 191 müde gemacht hätten, daß sie nun entschieden der Ruhe bedürfe. Dori antwortete rasch, auch wenn sie noch der Ruhe bedürfte, was sie nicht empfinde, so wäre es ihr lieb und wohlthuend, mit den jungen Leuten zusammen zu sein. Sie wünschte, an dem Spiel teilzunehmen. Sie führte die Jungen nach ihrem Zimmer, und unter Oskars Leitung begann das Spiel. Dori bezwäng sich mit aller Macht, um nicht gar zu teilnahmlos zu spielen, sie wollte, so lang es ihr noch möglich war, ihren lieben Jungen zu gefallen leben und sich an ihnen freuen. Sie konnte es, die Jungen waren auch heute ganz besonders lieb und nett. Das unterhaltende Spiel wurde den ganzen Nachmittag bis gegen Abend fortgesetzt. Da war eS Oskar, der zuerst etwas Neues wünschte, die andern stimmten bei. Tante Dori sollte etwas vorschlagen. Sie wußte wohl ein ganz nettes Spiel, aber dazu sollte man die kleinen Karten gebrauchen, die mit allerlei geschichtlichen Namen überschrieben waren und unten im Gesellschaftszimmer geholt werden mußten. Oskar wollte gleich lausen, sie zu holen, aber Dori hielt ihn zurück, sie wollte selbst gehen, sie wußte, daß er sie nicht finden würde. Als sie sich dem Zimmer nahte, hörte sie lautes, aufgeregtes Sprechen drinnen. Sie öffnete die Thür, es trat plötzliche Stille ein. Die Damen 13 * 192 Maurizius saßen in einer Fensternische, der Bruder stand vor ihnen, alle drei sahen sehr erregt aus. „Kommen Sie, Fräulein Cousine", rief Richard ihr zu, „Sie haben ein Frauenherz, Sie verstehen etwas von diesem Kapitel, wie urteilen Sie? Was wird eine junge Dame thun, deren Herz von ,ja< überströmt, während die Vernunft ,nein< sagt, denn die Last ist ihr zu schwer, die sie auf sich nehmen soll." „Fragen Sie mich, was möglich ist, Herr Maurizius", erwiderte Dori, die funkelnden Augen auf ihn gerichtet: „Wenn ein Herz von ,ja< überströmt, so wird ihm keine Last zu schwer sein, die es mittragen soll." Sie wandte sich und öffnete den Schrank, um die Kärtchen herauszuholen. „Erna, unser Fall ist unmöglich", sagte Richard und lachte heraus. Dori hörte noch im Hinaustreten, wie Erna in gereiztem Ton ausrief: „Du bist ein ganz unerträglicher Schwätzer, Richard." Dori blieb an der Treppe stehen, sie konnte unmöglich weiter. Ihr Herz schlug nicht mehr, die Füße waren so schwer, daß sie sie nicht heben konnte. Nun wußte sie es, das Wort war gefallen, die Dame hatte sich zu entscheiden, und wie sie endlich entscheiden würde 1S3 wußte Dort, es konnte ja gar nicht anders sein. Sich so zu besinnen, ob sie diesen Reichtum an Liebe, alle diese Herzen annehmen konnte! Und ihn, für ihn zu tragen nannte sie eine schwere, eine zu schwere Last! Und was war zu tragen? Eine Empörung glühte in Doris Herzen auf, die ihr plötzlich alle Kraft zurückgab, sie lief die Treppe hinauf und ins Zimmer hinein. „O Tante Dori, du bist ganz schneeweiß, du bist krank", rief Otto aus. Er war ihr entgegengelaufen und hielt sie zärtlich umfaßt. Dori hatte sich schnell auf einen Sessel niedergelassen. „Ja, Sie sehen schlecht aus", sagte Oskar, „wir wollen nicht mehr spielen." Waldemar sah ganz bekümmert aus; er hatte Doris Hand ergriffen und hielt sie fest. „Nein, nein, ich bin gar nicht krank", sagte Dori aufstehend; „ich war nur einen Augenblick nicht ganz wohl. Wir wollen ein andermal wieder spielen. Ihr solltet wohl nun gehen und sehen, was der Bater macht, er weiß ja gar nicht, wo wir sind." Oskar und Waldemar gingen. „Tante Dori, wenn du nur nach Cavandone gehen wolltest, da würdest du gewiß im Augenblick wieder gesund", sagte Otto überzeugt. 194 Dorr antwortete nicht; sie hielt den Knaben umschlungen und dachte sich aus, wie ihr sein würde, wenn sie ihn nun hergeben mußte für immer, und an eine Mutter, die ihn nicht liebte. Nun ertönte der Ruf zur Abendtafel. Wie gern wäre Dort dieser fern geblieben, aber sie wollte nichts Auffallendes thun, sie mußte sich überwinden. Tori brachte freilich kaum einen Bissen herunter; aber sie saß in ruhiger Fassung dem unermüdlich sie anredenden Herrn Maurizius gegenüber und beantwortete pflichtgemäß alle seine Fragen. Als sie das Zimmer verlassen wollte, vertrat er ihr rasch den Weg: „Heute lassen wir Sie nicht entschlüpfen", sagte er. „Sie müssen mit, wir haben Sie durchaus nötig. Meine Schwester empfindet das unabweisbare Bedürfnis, das Herbstlied zu singen. Ich glaube, sie will ,Lebe wohl' singen mit dem wonnigen Gefühl, daß sie es nicht erleben mußte." „Fasle doch nicht, Richard", sagte die herzutretende Erna, „das Lied wünsche ich heute zu singen, weil ich weiß, daß Doktor Strahl es gern hört." „Ich kann wirklich heute nicht singen", versicherte Dori, „meine Stimme ist ganz schlecht, ich würde Ihr Lied verderben." 195 „Ihre Stimme ist ja ganz klar", bemerkte Erna. „Sie werden sich doch nicht zieren! Oder wollen Sie besonders gebeten sein? Herr Doktor, kommen Sie doch, bitten zu helfen", rief sie diesem zu, „es ist um ein Lied, das Sie gern singen hören möchten." Dori war die Erregung rot in die Wangen gestiegen. „Ich bin nicht daran gewöhnt, daß man so die Aufmerksamkeit auf mich richte. Ich will Wohl singen, Herr Maurizius, aber Sie werden hören, wie schlecht meine Stimme ist." Dori hatte sich umgewandt und ging mit Richard dem Gesellschaftssaal zu. Die englischen Damen saßen am Klavier und spielten. Es verging eine gute Zeit, während welcher Richard allerlei Bemerkungen an Dori hin machte. Sie hörte die Worte ohne sie zu fassen, das laute Spiel entschuldigte ihr Nichtantworten. Nun standen die Damen auf. Erna nahte sich dem Klavier, ihre Schwester spielte einige einleitende Accorde. Eben war Doktor Strahl eingetreten. Dori hatte sich nun auch dem Klavier genähert. Der Gesang begann. Doris Stimme zitterte, sie wurde immer unsicherer. Aber Dori zwang ihre Bewegung nieder; sie sang weiter. Nun kam die Stelle: 196 „Und du — auch du! Wie wird eS morgen sein? Hin alle Rosen, hin der Sonnenschein —" Jetzt versagte Dort die Stimme vollständig. Sie wollte eine Entschuldigung vorbringen, es kam kein Wort, sie brachte nichts heraus. Sie verließ schnell das Zimmer. Erna warf ihrem Bruder einen Blick zu, der deutlich genug sagte: „Habe ich wohl recht? Weiß diese etwas von gesellschaftlichem Anstand?" Wie ein Blitz war Otto der Tante nachgeschossen. In ihrem Zimmer fand er sie am Fenster stehend, den Kopf in die Hände gelegt, sie schluchzte. Otto schmiegte sich zärtlich an sie: „Hast du das Heimweh, Tante Dori? O ich weiß wohl, wie schrecklich weh es thut. Wir wollen doch nach Cavandone gehn zusammen, daß du wieder froh werden kannst! Dort wird es dir gewiß wieder ganz wohl. Wir wollen fort, Tante Dori, wir wollen heim, nach Cavandone!" „Ja, wir wollen heim, nach Cavandone, Otto, so bald als möglich", entgegnete Dori, die ihre Thränen getrocknet und sich gefaßt hatte. „Du hast recht, dort werden wir wieder froh werden zusammen." Otto jubelte auf: „So willst du kommen? Bald? O wie herrlich! Wie herrlich! So will ich es gleich noch dem Papa sagen/ Otto wollte fortrennen, aber Dori hielt ihn fest. „Das will ich selbst thun", sagte sie, ,ich muß ja deinen Vater bitten, daß er es uns erlaubt; vielleicht will er dich lieber noch hier haben. Morgen will ich es thun. Erlaubt er deine Abreise, dann gehen wir in wenig Tagen." Otto war völlig außer sich vor Freude. Nur mit Mühe konnte Dori ihn endlich dazu bringen, sich niederzulegen, er behauptete, die Freude ließe ihn keinen Augenblick schlafen. Jetzt klopfte es noch an Doris Thür. Es war Oskar, den der Vater gesandt hatte, zu fragen, wie es ihr gehe. Dori ließ danken, sie sei wieder ganz wohl. Oskar möchte doch recht sagen, wie leid es ihr thue, daß sie solche Störung in den Gesang gebracht habe. Als Dori allein war, setzte sie sich hin und suchte still zu werden, denn in ihrem Innern war ein Aufruhr, wie sie solchen niemals empfunden noch gekannt hatte. Ja, fort, fort, nach der stillen Heimat, das war das Rechte für sie. Ihrem Otto wollte sie noch die Freude bereiten, Cavandone wiederzusehen, vielleicht war es ja nicht für lange Zeit und 198 jedenfalls das letzte Mal für ihn. Es war kein Fortlaufen aus einer Pflicht, sie durfte den Doktor darum bitten. O ja, heim, fort! Sie sehnte sich danach — und dennoch — vor ihr lag es wie eine große Öde. „Wie wird eS morgen sein? Hin alle Rosen — hin der Sonnenschein — Dori saß regungslos nach außen mit ihrem Kampf im Innern bis in die tiefe Nacht hinein. „Ich kann nur zur Ruhe kommen, wenn ich es erfassen kann, daß es so sein muß, daß es zum Guten ist für sie alle. Dann soll die Leere vor mir liegen, ich will doch stille werden", war ihr Schlußwort. Elftes Kapitel. Dort sandte Otto am frühen Morgen nach dem Zimmer seines Vaters, um zu fragen, ob sie mit ihm sprechen könnte, und ob er vorziehe, sie in seiner Arbeitsstube oder unten im Empfangszimmer zu erwarten. Doktor Strahl saß an seinem Schreibtisch in der Arbeitsstube, die er neben seinem Schlafzimmer liegend, in Beschlag genommen hatte. Erst als Otto seinen Auftrag ausgerichtet, schaute er von seiner Arbeit auf. „Hier könnten wir jedenfalls ungestörter sprechen, wenn Tante Dori mir etwas Besonderes mitzuteilen hat", entgegnete der Vater ein wenig verwundert. „Aber mein Junge, was ist denn mit dir? Du strahlst ja vor Freude! Was ist denn los?" „O Papa, ich kann es fast nicht verhalten", rief Otto aus, „aber ich muß! Tante Dori will es selbst dir sagen"; er rannte fort. Mit noch größerem Erstaunen stand der Doktor auf und 200 stellte seinen Lehnstuhl vor das kleine Sofa hin. „Was kann denn wohl die Freudennachricht sein?" fragte er sich. Jetzt wurde angeklopft und Dori trat ein. Der Doktor lud sie ein, auf dem Sofa Platz zu nehmen, er setzte sich vor sie hin in seinen Lehnstuhl. „Ich komme mit einer Bitte, Herr Doktor", begann Dori. „Sie mit einer Bitte an mich, Fräulein Dori?" sagte er erfreut. ., Sonst bin ich wieder und wieder der Bittende, und welche Bitten habe ich schon an Sie gerichtet, und wie sind sie mir erfüllt worden! Ihre Bitte an mich ist zum voraus gewährt, was sie auch sei, ich freue mich, sie zu hören." „Ich möchte gern gleich in den nächsten Tagen nach Cavandone zurückkehren", sagte Dori. mit Gewalt ihre unsichere Stimme beherrschend. „Damit ist noch eine Hauptbitte verbunden, daß Sie mir erlauben, Otto mitzunehmen. Ich glaube, für seine Gesundheit kann der Wechsel jetzt nur gut sein. Ich möchte recht herzlich bitten, daß Sie mir ihn anvertrauen und den Sommer mir ihn überlassen wollten." Der Doktor sah so überrascht aus, daß sein Schweigen während mehrerer Minuten wohl daraus zu erklären war. .Ihre Worte haben mir eine solche Überraschung gebracht, daß ich noch jetzt zu keiner Antwort gerüstet bin", sagte er endlich. „Eine Bitte enthalten sie freilich nicht. Für das Glück, das sie meinem Jungen bereiten wollen, kann ich nur danken, immer wieder danken, wie ich es Ihnen vorüber gewohnt bin. Sie von hier fortziehen zu lassen, kann keine Bitte an mich sein, wie hätte ich da etwas zu gewähren, wo Sie doch allein zu entscheiden haben. Wenn ich ein Wort dazu sprechen darf, so ist es die Frage: ,Wie kommen Sie so plötzlich zu diesem, mir völlig unerwarteten Entschluß?'" Auf diese Frage war Dori nicht vorbereitet. Sie hatte keinen Augenblick daran gedacht, daß sie so gefragt werden könnte. Sie hatte keine Antwort. Die Wahrheit war nicht auszusprechen; schon der Gedanke daran trieb ihr das Blut heiß in die Wangen. „O ich bitte um Entschuldigung", sagte der Doktor schnell, .ich habe ja gar kein Recht, nach Ihren Gründen zu fragen. Sie müssen es mir zugute halten, Fräulein Dori, wenn ich mit meiner Frage zu weit gegangen bin; sie kam aus dem Wunsche, es möchte noch irgendetwas gethan werden können, Ihren Entschluß zu ändern. Er kommt mir so schmerzlich überraschend, daß ich noch jetzt 202 ihn nicht als unveränderlich anerkennen mag. Ich stand in der vollen Gewißheit, unser Zusammenleben hier würde mehrere Wochen lang dauern. Nun sind wenige Tage vergangen, und es soll alles abgebrochen werden." Dori schaute den Doktor an, als könnte sie nicht fassen, was er sprach. Sie blieb stumm. „Ich kann es ja begreifen", begann er wieder, »Sie sehnen sich nach Ihrem ungestörten Leben auf Ihrer stillen, schönen Höhe zurück, wo Sie fern von allem unnützen Getriebe der Menschen, von ihrer Unruhe und ihren Mühsalen geborgen sind. Aber gerade Ihnen ist so viel gegeben, anderen wohlzuthun. Wer die Macht hätte, den Wunsch in Ihnen zu wecken, zu bedürftigen Menschen niederzusteigen, um sie froh und glücklich zu machen!" Aus Doris Wangen war alles Blut gewichen. Marmorweiß und starr blickte sie den Doktor an. Von wem sprach er? „Läge denn für ein teilnehmendes Herz, wie das Ihrige ist, nicht auch eine leise Befriedigung darin, den Sonnenschein in ein schattenvolles Haus und in verwaiste Herzen zu bringen, die dürstend danach verlangen? Sie bleiben stumm, Sie haben kein entgegenkommendes Wort für mich? — Ich verstehe Sie: Es giebt nur eine Macht, die Sie bewegen könnte, Ihre sonnige Heimat mit dem Leben 203 in einer Großstadt im grauen Norden zu vertauschen; diese Macht haben Sie an Ihrem Herzen noch nicht erfahren, ich meine, eben jetzt ist sie Ihrem Herzen unbekannt. Mein eigenes Empfinden hat mich wohl irregeführt, wenn ich einen Augenblick wähnte, unsere alte Freundschaft könnte auch bei Ihnen einen wärmeren Ton angenommen haben, so daß Sie den alten Freund verstehen könnten in seinem Verlangen, Sie möchten sein Leben teilen, in seine nordische Heimat mit ihm ziehen." „O, Herr Doktor, wohin Sie nur wollten — durch die ganze Welt würde ich mit Ihnen ziehen —, aber es ist ja unmöglich." Mit einer ursprünglichen Gewalt waren die Worte aus Doris Herzen hervorgebrochen. Sie hatte ihr Gesicht in beide Hände verborgen; ihr Herz pochte so laut, daß er es hören mußte. Der Doktor blickte in fragendem Erstaunen auf Dori: „Sie wollten mir folgen, wohin es wäre, aber es ist unmöglich?" wiederholte er langsam; „wie soll ich das verstehen? Ja, es giebt eine Deutung: Sie hätten mir vielleicht folgen können, aber — es ist zu spät — ich bin zu spät nach der Riviera gekommen. Ist es so?" „Nein, nein, so nicht, niemals! Aber . . . O Herr 204 Doktor, an mir ist ja gar nichts, es ist ja gar nicht möglich", stieß Dori hervor. Der Doktor war aufgesprungen; er löste die Hände von Doris Gesicht und hielt sie beide fest. Mit seinen durchdringenden Augen blickte er tief in die ihrigen: „Dori, Dori", sagte er mit Innigkeit, „willst du mein sein? Willst du den Sonnenschein in mein Haus bringen? Hast du mich lieb genug dazu? Sprich es aus, sage mir, daß du mich liebst, daß ich es glauben kann." „O ich habe Sie ja mehr lieb als alles, das ich auf der Welt kenne, aber ..." Der Doktor hatte Dori umschlungen; mit seinen Lippen schloß er die ihrigen. Erst als die Arme, die sie so fest umschlungen gehalten, sich jetzt lösten, konnte Dori recht in das Angesicht blicken, das ihr so teuer war wie kein anderes. Daß diese durchdringenden Augen, die sie so wohl kannte, je einen Menschen mit solcher Innigkeit anblicken könnten, hätte sie nie geahnt, und diese Innigkeit galt ihr. .Wie werden meine Jungen jubeln, Dori", sagte Doktor Strahl mit wonnigem Lächeln. „Aber zuerst und vor allem gehörst du mir. Du bist mein, Dori, sag mir's, daß du mein bist, vor allem mein eigen." „Ja dein, für immer, für immer dein eigen", sagte Dori. 205 Und jetzt konnte sie mit dem ganzen Vertrauen, mit der ganzen Liebe ihres Herzens in seine Augen schauen. Otto war schon lange draußen vor der Thüre hin und her getrippelt, jetzt konnte er es nicht mehr aushalten. Er öffnete die Thür ein ganz klein wenig und fragte leise: „Papa, hast du noch nicht ja gesagt?" „Doch, und Tante Dori hat auch ja gesagt; komm zu uns herein", rief der Vater. Otto riß die Thür weit auf; aber er blieb unbeweglich auf der Schwelle stehen. Dort stand der Vater und hielt Tante Dori fest umschlungen. „Komm heran, Otto", sagte der Vater lächelnd, „kannst du nicht begreifen, was du siehst? Tante Dori wird deine Mutter sein. Wir nehmen sie mit nachhaus' und geben sie nie, niemals wieder her." Jetzt stürzte Otto in ihre Arme: „O Tante Dori, bist du meine Mama? Bleibst du immer, immer bei uns? Kommst du mit heim in unser Haus? Gehst du dann nie, nie mehr fort von uns? Aber, Tante Dori, gehen wir dann doch nach Cavandone?" flüsterte er in ihr Ohr. „Ja, Otto, mein Junge, nun gehören wir ja zusammen", sagte Dori mit tiefer Bewegung, „nun bleiben wir immer zusammen und gehen immer wieder nach Ca- spyri , WnS aus ihr geworden ist. 14 206 vandone zu deiner Großmutter. Nun bist du ja mein Kind, mein eigenes Kind! - Doktor Strahl war nicht weniger bewegt. „Geh, Otto", sagte er seinen Jungen sanft von seiner Mutter ablösend, „hol deine Bruder, die Freude soll ihnen nicht länger vorenthalten bleiben." Otto lief. Im Garten ging Richard Maurizius mit seiner Schwester Wera auf und ab. „Aber was haben sie denn in aller Welt miteinander gesprochen gestern Abend, wenn es zu keinem entscheidenden Worte kam?" fragte der Bruder ungeduldig. .Mehr als eine Stunde lang sind sie miteinander umhergewandert. Was kann man so lange verhandeln, bevor man zum Ziel kommt?" .Aber, Richard, war es denn nicht natürlich, daß Erna dem Doktor ihren Dank noch besonders aussprechen wollte?" fragte Wera erregt. „Ist es denn nicht eines wiederholten Dankes wert, vom Abgrund zurückgezogen zu werden? Doktor Strahl wollte in seiner nobeln Weise gar nichts aus der Sache machen und den Dank nicht einmal recht annehmen; immer behauptend, das hätte ja an seiner Stelle jeder gethan. Und dann weißt du ja wohl, ihre Unterhaltung war ja ganz unterbrochen worden durch das Er- 207 eignis, und auf dem Heimweg war Erna ja zu sehr angegriffen, um zu sprechen. Am Abend im Garten haben sie dann das angefangene Gespräch erst beendigen können; es war über die neuen französischen Schriftsteller, sehr interessant." Das Geschwisterpaar bog um die Ecke der Lorbeerwand, auf den breiten Gartenweg hinaustretend. Eben kam Otto von der andern Seite her und schoß wie ein Pfeil zwischen Richards Füße. Dieser hielt den Rennenden fest. „He, junger Wildschütz, wohin so eilig?" rief Richard aus. „Wo ist dein Vater? Ich habe ihn überall gesucht. Der Himmel wird hell, heute soll die Partie gemacht werden." „Papa hat nicht Zeit, lassen Sie mich los, schnell!" schrie der Junge, aus allen Kräften sich wehrend. „Ich muß die Brüder suchen, Tante Dori wird meines Papas Frau, sie wird unsere Mutter." Richard ließ los, — Otto stürmte fort. Starr vor Erstaunen stand Richard vor seiner Schwester. „Glaubst du's?" fragte er. „Ja, gewiß", entgegnete sie, „der Junge war ja ganz aufgeregt von dem Ereignis." Eben kam Erna daher, nach den Geschwistern suchend, „Erna", rief ihr der Bruder entgegen, „wir müssen uns nicht mehr besinnen, andere haben es für uns gethan." 14 * 208 Er lief weg. Die Schwester hatte zu erklären, was geschehen war. Otto hatte die Bruder gefunden, alle drei stürzten die Treppe hinan in des Baters Zimmer. Oskar rannte auf die neue Mutter los und umhalste sie. „O Tante Dori! Tante Dori! daß du unsere Mutter wirst, das ist ein unglaubliches Glück! Ganz wundervoll! 2kun gehst du gleich mit uns heim und gehst nicht mehr weg! O es ist ganz unaussprechlich herrlich." Waldemar hatte sich an Doris Seite geschmiegt und hielt ihre Hand in feinen beiden Händen fest, mit einer so innigen Freude, als wollte er sagen: „Die lasse ich nicht mehr los." Und Dori verstand ihn wohl, obschon er kein Wort hervorbringen konnte. Sie hielt die drei zusammen umschlungen und rief in Wonne aus: „O meine Jungen! meine Kinder! Nun gehört ihr mir alle an! O ich bin so reich, so reich, ich kann es ja nicht fassen, daß ich so glücklich sein soll, daß ihr alle mir angehört." Hinter allen stand der Vater. Seinen Arm um Dori gelegt, schaute er mit leuchtenden Augen auf alle die glückstrahlenden Gesichter nieder. Doktor Strahl wünschte für heute der Gesellschaft zu entfliehen und den Tag allein mit seiner Familie an irgend- 209 einer schönen Stelle zuzubringen. Der Wunsch war Dori aus der Seele genommen. Sie kannte eine solche Stelle: Das uralte Städtchen im Seitenthal, das unter Oliven- und Zitronenbäumen halb versteckt am Berge lag, wie sie sagte, würde eine liebliche Zufluchtsstätte bieten. Die Jungen jauchzten auf über diese Aussicht. Der Wagen wurde bestellt. Kurze Zeit darauf fuhr die freudestrahlende Familie ins sonnige Land hinaus. „Der glückliche Doktor Strahl!" sagte Richard, der neben seiner Schwester Erna im Garten stand und dem Wagen nachschaute. Erna zuckte die Achseln. „Jedenfalls ist er ein Mann, der, wenn er einmal zum Bewußtsein kommt, daß er einen großen Irrtum begangen hat, ihn in einer Weise tragen wird, wie du es nie gekonnt hättest, Richard." „Er wird nicht schwer an seinem Irrtum tragen! Wer weiß, ob er nicht einem gefährlicheren Irrtum glücklich entronnen ist", erwiderte der Bruder ein wenig spöttisch und ging weg. Erst spät, beim Sternenschimmer, kam der Wagen wieder angefahren. Die Familie zog sich sofort zurück. Zur Mittagstafel am andern Tag erschien Doktor Strahl mit seiner Braut am Arm, um sie den bekannten 210 Gästen vorzustellen. Die Damen Maurizius beglückwünschten die Verlobten in den besten Formen. Richard stellte sich vor Dort hin und sagte halb scherzend, halb seufzend: „Daß ein nie anerkannter Vetter Ihnen seine herzlichen Wünsche auch aussprechen möchte, wird Ihnen ja keinen Eindruck machen, aber ich thue es doch und werde auch immer mit dem Andenken an das unvergeßliche Bordighera dasjenige einer unvergeßlichen Cousine verbinden, die ich dort getroffen habe." „Im Gegenteil, mein lieber Herr Vetter, Ihre freundliche Teilnahme ist mir sehr wohlthuend", entgegnete Dori mit einer Herzlichkeit, die er noch nie von ihr erfahren hatte. „Sie waren auch immer so freundlich gegen mich, schon von Anfang unserer Bekanntschaft an, daß ich Ihnen nun einmal recht herzlich dafür danken möchte, wir bleiben ja wohl nicht lange mehr zusammen." Dori reichte ihm ihre Hand. Er drückte sie in stummem Erstaunen. Wie herzlich konnte diese zurückhaltende Cousine sein! Ihren lieben Vetter nannte sie ihn und so warm kamen die Worte aus ihrem Herzen! Ja, jetzt vom sicheren Boden aus konnte sie herzlich sein zu ihm. Sie hatte ihn wohl verstanden, sie hatte ihn nicht weiter kommen lassen wollen. Wohin wäre er auch gekommen, wenn sie sich immer so einnehmend gegen ihn benommen hätte! Meine Cousine ist und fühlt feiner, als manche große Weltdame, die ich kenne, das muß mir Schwester Erna noch wissen. Das waren Richards Gedanken, wie er Dori vorüber an der Tafel saß und zum erstenmale die Unterhaltung den anderen überließ. Zu ihrem Entzücken schlug Doktor Strahl Dori vor, sofort nach Cavandone überzusiedeln, um der Mutter - Maurizius die Nachricht, die sie wohl in große Aufregung versetzen würde, selbst zu überbringen. Die beste Beruhigung müßte ihr die Tochter selbst geben können, meinte der Doktor. Den Entscheid, wie es mit den beiden älteren Söhnen sein sollte, überließ der Doktor seiner Braut; entweder sie wurden mitgenommen oder sie reisten auf einem Umwege, der ihnen den abgekürzten Aufenthalt versüßen sollte, Nachhalls'. Dori wünschte durchaus, daß sie mitkommen sollten, sie wollte der Mutter ihren ganzen Reichtum zeigen, sie wußte auch, wie sehr die Mutter danach verlangte, ihren lieben, nie vergessenen Doktor Strahl mit seinen Söhnen einmal bei sich zu sehen. Als Otto hörte, daß in drei Tagen die ganze Familie nach Cavandone reisen werde, wurde er von so überschäumender Freude erfüllt, daß er unaufhörlich vom Vater 212 zu den Brüdern und von diesen wieder zurück zum Vater stürzte und ihnen mit flammender Begeisterung schilderte, was sie nun alles sehen werden, von den blauen Seewellen an am Gestade von Suna, bis hinauf zum alten Turm und zur weißen Kapelle und höher hinauf zu dem Felsenhaus mit den Weinranken darüber, und immer noch höher zu den rauschenden Kastanienbäumen, die über das alte Mäuerchen hangen, wo man sich setze und singe: „Rote Wolken am Himmel, Wilde Rosen im Hag, Und ich freu' mich, ja ich freu' mich Am sonnigen Tag!" Der Vater hatte eine Zeit lang verwundert Ottos Treiben verfolgt. „Ist das unser Otto?" rief er endlich aus, „mein Junge, den ich vor meinen Augen hinsiechen sah, der bleich und stumm stundenlang in einem Winkel sitzen konnte, als wäre er ein frühzeitiges, freudenloses Greislein. Don, meine Dort, den hast du mir neu geschenkt!" Dori ergriff die dargebotene Hand und hielt sie zwischen den ihrigen fest: „Wenn der liebe Gott mich in etwas hat brauchen können, unsern Otto wieder frisch und 213 froh zu machen", sagte sie, mit leuchtenden Augen ihrem Jungen nachblickend, der in Sprüngen das Zimmer verließ, „so kann kein innigerer Dank dafür zu ihm aufsteigen, als der meinige ist." Zwölftes Kapitel. Auf ihrer Terrasse in Cavandone stand Dort an Doktor Strahl gelehnt. Sie schauten zusammen auf das stille, abendlich beleuchtete Thal zu ihren Füßen und nach dem grünen Motterone hinüber, hinter dessen goldschimmerndem Rücken die Sonne im Sinken war. Es war der letzte der lieblichen Tage, die den glücklichen Menschen im einfachen Felsenhaus, in der Stille der sonnigen Berghalde, schnell, wie ein schöner Traum dahingegangen waren. ,Es wird mir schwer, zu gehen", sagte der Doktor, „wenn ich auch weiß, im Spätsommer kehre ich wieder, dich fortzuholen, um dich nie mehr zu lassen. Wird es dir dann noch schwerer werden, als es mir heute wird, von hier fortzugehen, meine Dort?" „Mit dir! In dein Haus! Zu unsern Jungen!* erwiderte Dori, und im Ton ihrer Stimme lag die überzeugendste Berneinung. „Wir verlieren ja diese Heimat auch nicht", setzte sie hinzu, „wir werden immer wiederkommen und immer zusammen, das ist das Schönste." Die Mutter Dorothea war vor Wonne darüber, daß es Doktor Strahl war, der ihre Dori haben wollte, noch gar nicht zum Jammern über die Trennung von ihrem Kinde gekommen. Daß dieser Mann, den sie so verehrt und in ihr Herz geschlossen hatte, als er in ihrem Haus in Schuls bei ihr lebte, einst ihr Sohn werden könnte, das hätte sie ja nie ahnen, gar nicht fassen können, hätte man es ihr damals vorhergesagt. Noch jetzt mußte sie sich manchmal fragen: „Ist denn Doktor Strahl wirklich Doris Verlobter, oder habe ich so geträumt?" Zum Bewußtsein, daß es nicht Traum, sondern Wirklichkeit war, brachten sie immer bald wieder die drei Jungen, die bei der allezeit zur Erfüllung aller ihrer Wünsche bereiten Großmutter einen Ersatz dafür suchten, daß der Vater Tante Dori ganz in Beschlag genommen hatte. Die gute Großmutter Dorothea war auch von ihren drei zutraulichen Enkeln so entzückt, daß sie nicht wußte, was sie alles zu ihrer Freude thun wollte. Eben jetzt kam sie mit ihnen und ihrer freudestrahlenden Spielgenossin Marietta vom Abschiedsbesuch oben im Kastanienwald zurück. Alle fünf waren mit Zweigen und Epheu und grünen Ranken über und über beladen. 216 Das sollte alles mit auf die Reise genommen werden, um eine Erinnerung an Cavandone so lang als möglich vor Augen zu haben. „O, wie schade, Papa, wie schade, daß es der letzte Tag ist", rief Oskar auf die Terrasse tretend, und Wal- demar und Otto und auch die Großmutter stimmten alle in den Jammerruf ein. „Eure Mutter hat eben für euch gebeten, ihr Jungen", sagte der Vater, „nicht für jetzt, das muß einmal sein, daß wir reisen; aber im Spätsommer, wenn ich die Mutter heimholen will, dann sollt ihr mit hierherkommen und hier bleiben mit der Großmutter Erlaubnis, bis wir von unserer Reise wiederkehren und euch hier holen, damit wir alle zusammen in die Heimat einziehen können. Der glückliche Otto allein hat sich von seiner Mutter nicht zu trennen, den will sie hier behalten. Nun bittet die Großmutter um ihre Zustimmung." Der Freudenlärm, der jetzt losbrach, war kaum ein Bitten zu nennen, es war ein Frohlocken, das keinen Zweifel kennt. „O, die Großmutter hat uns schon eingeladen für alle Ferien unseres Lebens", rief Oskar jubelnd aus, .nicht wahr, Großmutter, das haben wir ausgemacht?" 217 Die Mutter Dorothea trat zu den Verlobten hin, die Arm in Arm sich an den weinumrankten Pfeiler lehnten: „Ja, lieber Doktor", sagte sie, ihm die Hand bietend, „wenn Sie mir Dort fortnehmen, so versprechen Sie mir, dagegen meine drei Enkel zu überlassen, so oft nur immer die grimmigen Studien es erlauben." „Und Sie von neuem nach ihnen verlangen, liebe Mutter, denn so für alle Zeit darf man Sie nicht beim Worte nehmen", meinte der Doktor. „Bleibt dann auch für Dori und mich ein Teilchen von Verlangen übrig, so kommen wir auch wieder mit, denn wer wird nicht immer mit Sehnsucht nach Cavandone hin denken, der es einmal kennt." Die Mutter drückte ihrem Doktor die Hand: „Wer nach Ihnen und nach unserer Dori das ganze Jahr durch verlangen wird, das wissen Sie wohl", schloß Dorothea. Die alte Maja hatte die Wendung in Doris Schicksal so bestimmt vorausgesagt, daß sie in unausgesetztem Triumph darüber blieb, daß alles so gekommen war; denn sie hatte ein Gefühl der Mitwirkung bei der Sache. Daß derjenige, dem Dori angehören sollte, ein ganz besonderer Herr sein müßte, hatte sie immer im Sinne gehabt; auch das war eingetroffen. Maja behauptete, er sehe perfekt dem heiligen 218 Georg in der Kirche gleich, dem hochaufgerichteten Heiligen, mit dem lockigen Haar, den feurigen Augen und der geschwungenen Lanze. Alles war da, nur die Lanze nicht. Dori hatte an Giacomo geschrieben; der alte Freund sollte von ihr selbst wissen, was ihr weiterer Lebensgang war. Seine Antwort brachte die erfreulichsten Nachrichten. Der Schluß derselben lautete: „Als ich dich in Bordighera verließ, konntest du ärgerlich über mich sein; ich hatte es verdient. Ich hatte eben immer gedacht, es müsse bei uns in Cavandone fort und fort alles so bleiben, wie es war. Jch mochte es eben keinem gönnen, daß er dich allein haben sollte, oder daß dich einer gar von Cavandone fortnehmen dürfe. Nun bin ich schon viel vernünftiger geworden und kann mich freuen, daß du so glücklich bist. Ich bin es auch. Ich habe hier so gute Menschen gefunden, alles Freunde vom alten Gärtner Melchior. Sie haben mich alle empfangen, als wäre ich sein Sohn und so behandelten sie mich von Anfang an als einen Freund. Ich habe Arbeit, so viel ich mir nur wünschen kann, und bin so bezahlt dafür, daß ich ein Herr werde. Das habe ich dir zu danken, wie ich alles, was ich bin und weiß und besitze, dir zu danken habe. Ich sage nur noch eins: Mein ganzes Leben lang wird es mir nicht aus dem Sinn kom- wen, wie anders alles bei uns geworden ist von jenem Tag an, da du zu uns kamst, als wir keine Mutter mehr hatten. Ich glaube, wir wären alle im Elend verkommen^ wenn du nicht eine Mutter für uns geworden wärest." Druck von ftriedr. Andr. Pertheö in Gotha. WWW ' «M HKMM MsM-W - - .. UM WW M« MWL »M 8I-M MMMzWMiMWßW 5PAZWLA^1ZZ iMMMLSsUD ^MMW^jAGAG'LrKW EMAMMKMSM-K AWsWW WDWHMMMAGMW WMHßM § MMmrAMBr ist/*-»--. L'K'^rÄ'dA'ArUWUMM MMMMLS «KWH WM WWWU: IMM / diMEsHsMS-.' MN..